Unsere eigene Evolutionsgeschichte ist – natürlich nur aus dem Blickwinkel des Menschen – eine erstaunliche Leistung und in der letzten Episode behandelten wir, wie das Leben auf der Erde entstanden sein könnte. Ist das Leben vorhanden, kann sich die Evolution entfalten.
Im Verlauf dieser Serie befassen wir uns mit verschiedenen Teildisziplinen, um die Evolutionsgeschichte des Menschen zu verstehen: wir werden uns mit Fossilien, Stammbäumen, Genetik, Embryonalentwicklung und Morphologie befassen und dies alles in ein kohärentes System integrieren, dass wir als Evolutionstheorie bezeichnen. Daher ist es notwendig, hier die Grundlagen der Evolution anzureißen.
Und auch dieses Kapitel ist länger geworden, als ich mir vorgestellt habe. Beginnen wir also damit, was Evolution und überhaupt eine Theorie ist. Ist alles, was ich in dieser Serie erzähle nur ein Hirngespinst, oder basiert es auf plausiblen Annahmen?
Wie funktioniert Evolution?
Was ist Evolution überhaupt? Vereinfacht ausgedrückt ist Evolution die Veränderung von Lebewesen über Generationen und Zeiträume. So sind Entwicklungsänderungen im Leben eines einzelnen Organismus, also von der Befruchtung bis zu seinem Tod, keine Evolution. Wenn Mitglieder einer Population sich miteinander fortpflanzen und neue Generationen hervorbringen, können wir uns diese als eine generationenübergreifende Linie vorstellen, die aus einer Reihe von Populationen im Laufe der Zeit besteht. Jede Population ist der Vorfahre der nachkommenden Populationen; wir haben also eine Abstammungslinie. Evolution ist dabei der Wandel zwischen den Generationen innerhalb einer Populationslinie. Darwin definierte Evolution als „Descent with Modification“, also Abstammung mit Modifikation (Veränderung).
Etwas, was wir auch unbedingt beachten müssen ist, dass Evolution kein Ziel oder festen Plan hat. Es ist nicht festgelegt, dass aus einer Population von Einzellern irgendwann ein Mensch entsteht. Die Natur hatte weder die Absicht, eine bestimmte Art hervorzubringen, noch würde heute genau dasselbe passieren, wenn man die gleiche Population von Vorfahren hätte. In Wirklichkeit kommt es innerhalb von Organismenpopulationen zu kleinen Veränderungen, und Teilpopulationen weichen dann voneinander ab, wodurch zwei verschiedene Zweige entstehen, die sich dann unabhängig voneinander entwickeln.
Die Evolutionsforschung versucht diese Veränderungen nachzuvollziehen. Sie untersucht zum einen die Ursachen und die Antriebe des Geschehens. Sie fragt also nach den geltenden Prinzipien, die hinter dem zu beobachteten Wandel stehen. Wichtige Evolutionsmechanismen sind hierbei natürliche und sexuelle Selektion, sowie die genetische Drift.
Die Vorstellung, dass sich Lebewesen im Laufe der Generationen verändern, ist älter die die Theorie Darwins. Aber Darwins natürliche Auslese bietet ein einfaches und plausibles Szenario, ohne dafür unüberprüfbare Zusatzannahmen zu verwenden, wie die Existenz eines Schöpfers oder eines inneren Drangs zu Optimierung.
Am besten lässt sich das Prinzip der Evolution erklären, wenn wir die natürliche Selektion mit anderen, historisch älteren Evolutionsvorstellungen, wie die z. B. von Lamarck vergleichen.
Vor Darwin hatte der Franzose Jean Baptiste de Lamarck ebenfalls argumentiert, dass sich Arten wandeln. Die Art und Weise, in der er dachte, dass sich Arten verändern, unterschied sich aber wesentlich von Darwin und unserer modernen Vorstellung von Evolution, und Historiker ziehen das zeitgenössische Wort „Transformismus“ vor, um Lamarcks Idee zu beschreiben.
Lamarck nahm an, dass die Abstammungslinien von Arten auf unbestimmte Zeit fortbestehen und sich von einer Form in eine andere verwandeln; Linien in seinem System verzweigten sich nicht (z. B. durch Artaufspaltung) und sterben nicht aus. Lamarck postulierte zwei wesentliche Triebkräfte für den Artenwandel:
Der Hauptmechanismus war eine „innere Triebkraft“ innerhalb eines Lebewesens, der dazu führte, dass er Nachkommen hervorbrachte, die sich leicht von ihm unterscheiden, so dass, wenn sich die Veränderungen über viele Generationen hinweg angesammelt hatten, die Abstammungslinie sichtbar transformiert würde, vielleicht genug, um eine neue Art zu sein. Lamarck ging also von einem Vervollkommnungstrieb der Lebewesen aus.
Der zweite, weniger wichtige Mechanismus, der aber den meisten Laien in Erinnerung geblieben ist, ist die Vererbung erworbener Eigenschaften. Während sich ein Organismus entwickelt, erhält er aufgrund seiner besonderen Lebensumstände, seien es Krankheiten, Training oder Unfälle, besondere Merkmale. Und diese individuell erworbenen Veränderungen können an die Nachkommen vererbt werden.
Ein gutes Beispiel stellt die Giraffe dar. Die Vorfahren der Giraffen streckten ihren Hals nach oben, weil sie den inneren Willen, die innere Triebkraft verspüren, ihren Hals zu verlängern, um so an die Blätter der Bäume ranzukommen, sich also zu vervollkommnen, zu verbessern.
Lamarck hat die Idee der Vererbung erworbener Eigenschaften auch nicht erfunden. Es ist eine alte Idee, die sogar von Platon diskutiert wurde. Die meisten modernen Überlegungen zur Rolle des Prozesses in der Evolution wurden jedoch von Lamarck inspiriert, und die Vererbung erworbener Charaktere wird heute konventionell, wenn auch unhistorisch, als Lamarcksche Vererbung bezeichnet. Auch Darwin lehnte die Vererbung erworbener Eigenschaften nicht ab, entwickelte sogar eine eigene Hypothese, die der Pangenesis, wie erworbene Eigenschaften an die Nachkommen vererbt werden können. Diese veröffentlichte er 1868 in seinem Werk „Die Variation von Tieren und Pflanzen unter Domestikation“.
Durch die Erkenntnisse der Epigenetik wissen wir heute, dass auch unter bestimmten Umweltbedingungen Umwelteinflüsse vererbt werden können. Welche Rolle sie für die Evolution und die Anpassung der Organismen eine Rolle spielt, ist noch nicht geklärt. Wichtig ist, dass hier aber keine Wiederbelebung des Lamarckismus zu sehen ist und noch, dass die natürliche Selektion dadurch widerlegt wird. Lamarckismus ist, wie wir gesehen haben, mehr als die Vererbung erworbener Eigenschaften. Die Ursache der vererbbaren Variation, ob durch Mutationen der DNS oder durch epigenetische Mechanismen, spielt für die natürliche Selektion keine Rolle.
Der wesentliche Unterschied zwischen Lamarck und Darwin besteht nicht in ihrer Vorstellung der Vererbung, sondern in den Triebkräften der Evolution. Ging Lamarck von einem vervollkommnungstrieb der Organismen aus, war nach Darwin die natürliche Zuchtwahl die Ursache für den Wandel der Arten. Die Natur ist aber nicht als eine Art mythisches oder magisches Wesen zu verstehen, welche über Leben und Tod entscheidet.
Selbst wenn erworbene Eigenschaften vererbt würden, kann der Lamarckismus die Anpassung nicht grundsätzlich erklären. Die Theorie kann nicht erklären, warum ein einzelner Organismus anpassungsfähig auf seine Umwelt reagieren sollte: Beispielsweise werden Muskeln durch Training stärker, weil es einen bereits vorhandenen Mechanismus gibt, der für den Organismus anpassungsfähig ist. Der Lamarckismus hat keine Antwort darauf, woher dieser Anpassungsmechanismus kommt, und für eine vollständige Erklärung müsste er auf eine andere Theorie zurückgreifen, wie z. B. Gott oder die natürliche Selektion. Der erste fall ist wissenschaftlich nicht überprüfbar und im zweiten Fall ist es die natürliche Selektion, nicht der Lamarckismus, der die grundlegende Erklärung für die Anpassung liefert.
Die natürliche Selektion funktioniert nach einigen begründbaren Annahmen:
Organismen produzieren mehr Nachkommen, als angesichts der begrenzten Ressourcen jemals überleben können, und daher konkurrieren Organismen um ihr Überleben. Nur die erfolgreichen Konkurrenten werden sich fortpflanzen. Diese Konkurrenz findet innerhalb eines Netzes ökologischer Beziehungen statt. Stellen wir uns hier ein Ökosystem wie die afrikanische Savanne vor. Pflanzenfresser, wie Gazellen, fressen die Gräser und Blätter und werden von Fleischfressern, wie Geparden gejagt. Auf der gleichen ökologischen Trophieebene befinden sich Konkurrenten, die um die gleichen begrenzten Nahrungs- oder Lebensraumressourcen konkurrieren können. Es gibt verschiedene Arten von Pflanzenfressern in einem Lebensraum: Gazellen, Zebras, Giraffen etc. und es gibt verschiedene Raubtiere, die um diese Beute konkurrieren, neben den Geparden sowas wie Löwen und Hyänen. Aber diese Konkurrenz findet nicht nur zwischen den Arten statt, sondern auch innerhalb. Auch die Gazellen konkurrieren untereinander um die besten Nahrungsplätze, sowie die Geparden untereinander um die begrenzte Zahl der Gazellen. Diese Konkurrenz um Ressourcen darf jetzt aber nicht so verstanden werden, dass sich alle Gazellen um den letzten Grashalm gegenseitig mit den Hörnern aufspießen bis der letzte sich an den Grashalmen erfreuen kann. Evolution ist kein Battle Royale, Hunger Games oder Squid Game; Kooperation und Symbiose können durchaus vorteilhafter sein, je nachdem welche Umweltbedingungen das Überleben sichern können. Es ist ein grobes Missverständnis der Evolution, dass beim Kampf ums Dasein es nur um rohe Gewalt geht, wo nur der stärkste überlebt. Da Evolution ein blinder Prozess ist, führen viele Wege zum Überleben.
Um die Funktionsweise der Selektion oder den Kampf ums Dasein besser zu verstehen schauen wir uns einige Beispiele dazu an.
Kabeljauweibchen legen bis zu 5 Millionen Eier, die an der Wasseroberfläche abgelegt werden. Sobald sie abgelegt sind, beginnt ein regelrechtes Gemetzel, wie aus der Grafik ersichtlich ist. Von den etwa 5 Millionen Eiern, überlebt nur ein verschwindend geringer Teil und pflanzt sich fort: Ein durchschnittliches Weibchen der Kabeljaupopulation bringt nur zwei erfolgreiche Nachkommen zur Welt. Diese Zahl, dass im Durchschnitt zwei Eier pro Weibchen überleben, um sich erfolgreich fortzupflanzen, ist nicht das Ergebnis einer Beobachtung: Sie stammt aus einer logischen Berechnung. Nur zwei können überleben, weil jede andere Zahl langfristig nicht tragbar wäre. Zur Fortpflanzung braucht es ein Paar. Wenn ein durchschnittliches Paar in einer Population weniger als zwei Nachkommen zeugt, wird die Population bald aussterben; wenn sie im Durchschnitt mehr als zwei zeugen, wird die Population schnell unendlich groß – was ebenfalls nicht nachhaltig ist. Wenn also zwei die optimale Anzahl an Nachkommen ist, um die Population zu erhalten, warum produzieren die Weibchen dann die anderen 4.999.998 Eier? Warum gibt es diese übermäßige Fruchtbarkeit?
Der Zustand der „übermäßigen“ Fruchtbarkeit – Weibchen bringen mehr Nachkommen zur Welt, als überleben – ist in der Natur universell. Bei jeder Art werden mehr Eier produziert, als bis zum Erwachsenenstadium überleben können. Der Kabeljau verdeutlicht diesen Punkt auf eine Art und Weise, da seine Fruchtbarkeit und Sterblichkeit so hoch sind; aber dasselbe gilt auch für Arten mit niedrigeren Reproduktionsraten.
Diese übermäßige Fruchtbarkeit ist darauf zurückzuführen, dass es in der Natur nicht genügend Ressourcen gibt, um alle Eier, die gelegt werden, und alle Jungen, die geboren werden, zu versorgen. Damit aber sichergestellt werden kann, dass einige wenige überleben, gibt es einen Überschuss an Nachkommen, nach dem Prinzip eines Gewinnspieles: je mehr Lose (Nachkommen) man hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen (bzw. dass einige nachkommen überleben. Es gibt nur begrenzte Mengen an Nahrung und Platz auf der Welt; eine Population kann sich zwar ausdehnen, aber es wird ein Punkt kommen, an dem die Nahrungsversorgung ihre weitere Ausbreitung begrenzen muss. Daher konkurrieren die Mitglieder einer Population und die Mitglieder verschiedener Arten um ihr Überleben, und dies ergibt sich aus den Bedingungen begrenzter Ressourcen und übermäßiger Fruchtbarkeit. Krankheiten, Hunger, Naturkatastrophen, Raubtiere dezimieren die Zahl der Nachkommen. Wie viele Nachkommen tatsächlich gezeugt werden, das hängt auch von der Investition in die Nachkommen ab. In der Populationsökologie unterscheidet man zwischen r und K-Strategen. R-Strategen setzen auf die schiere Anzahl an Jungtieren, investieren aber wenig in die Aufzucht der Nachkommen und überlassen es mehr oder weniger dem Zufall, wer überlebt. Der Kabeljau ist ein erwähntes Beispiel für solche r-Strategen. K-Strategen investieren hingegen wesentlich mehr in ihre Nachkommen, z. B. durch Brutfürsorge und Brutaufzucht. Hier werden weniger Nachkommen gezeugt, haben aber durch die Brutpflege höhere Überlebenschancen. Säugetiere sind ein klassisches Beispiel für solche K-Strategen. Doch auch hier werden mehr Nachkommen gezeugt, als tatsächlich überleben.
Wovon hängt es aber ab, dass welche Nachkommen überleben: Neben einer Portion Glück und Zufall ist es vor allem die Variation.
Die Nachkommen einer Elterngeneration ähneln zwar diesen, unterscheiden sich aber in ihren Merkmalen voneinander. Es gibt eine Variation in der Population, von denen einige Merkmale erblich sind – also an die nächsten Nachkommen weitergegeben werden. Einige Varianten sind in einer bestimmten Umwelt vorteilhafter als andere: man kann sich besser Tarnen, kann schneller vor Raubtieren fliehen, kann größere Temperaturgradienten tolerieren oder kommt mit weniger Nahrung aus. Und diese Variationen bringen in diesen Umwelten einen Fitnessvorteil mit sich. In der Evolutionstheorie bedeutet Fitness die durchschnittliche Anzahl der Nachkommen, die ein Individuum im Verhältnis zur Anzahl der Nachkommen eines durchschnittlichen Mitglieds der Population hinterlässt. Diese Bedingung bedeutet daher, dass Individuen in der Population mit einigen Merkmalen eher zur Fortpflanzung neigen (d. h. eine höhere Fitness haben) als andere. Wenn diese Bedingungen für eine Eigenschaft einer Art erfüllt sind, kommt es automatisch zu einer natürlichen Auslese. Wenn dies nicht der Fall ist, findet keine natürliche Auslese statt. Natürliche Auslese findet überall dort statt, wo Vererbung und Variation vorhanden sind.
Während die natürliche Selektion Merkmale fördert, die das Überleben sichern, wie Tarnung oder Schnelligkeit, konzentriert sich die sexuelle Selektion auf Merkmale, die die Fortpflanzungschancen erhöhen. Auffällige Eigenschaften, wie das prächtige Federkleid des Pfaus, das Geweih der Hirsche, Vogelgesänge etc. helfen Tieren Paarungspartner anzulocken – auch wenn sie das Überleben manchmal erschweren. Die sexuelle Selektion wird in einem späteren Kapitel unserer Serie nochmal intensiver behandelt, weswegen wir es hier bei dieser Randnotiz belassen.
Dass Evolution nicht einem höheren Ziel folgt, zeigt auch, dass es nicht immer einen Zusammenhang zwischen Fitness und dem betreffenden Merkmal gibt: Tatsächlich gibt es viele Merkmale, die nicht das Ergebnis der Selektion sind, sondern quasi „beiläufig entstehen“. Nehmen wir als Beispiel unser Blut. Es hat eine rote Farbe, wurde aber nicht nach der Farbe Rot selektiert. Selektiert wurde das Hämoglobin als sauerstofftragendes Protein, welches zufällig, weil es Eisen enthält, die Farbe Rot hat. Viele Merkmale haben auch keinen Fitnessvorteil, verbreiten sich aber trotzdem in Populationen, wenn sie nicht nachteilig sind. Ein Beispiel hierfür ist die genetische Drift. Die natürliche Selektion hat keinen zufälligen Einfluss auf die Änderung der Genfrequenz einer Population, sondern ist direkt gekoppelt an den Überlebens- und Reproduktionserfolg von Individuen, also deren Angepasstheit an ihre Umwelt. Die genetische Drift dagegen hat keine derartigen Ursachen, sondern ist rein zufallsbestimmt. Zwei wichtige Aspekte der genetischen Drift sollen angerissen werden, um deren Bedeutung für Evolutionsprozesse zu verstehen: Gründereffekt und Flaschenhalspopulationen.
Beim Gründereffekt wird eine neue Population durch einige wenige Individuen gegründet, die sich von ihrer Stammpopulation abspalten und sich beide genetisch nicht mehr vermischen. Welche Individuen und damit welche genetische Variation diese Gründerpopulation ausmachen, ist dem Zufall unterworfen. Der Flaschenhalseffekt beschreibt die starke Reduzierung der genetischen Variabilität. Dies kann z. B. durch Naturkatastrophen entstehen, bei der ein Großteil der Individuen und damit ein Großteil der genetischen Vielfalt verloren geht. Da neue Arten sich in kleinen isolierten Populationen schneller bilden, sind die Prozesse der genetischen Drift für die Evolution bedeutsam.
Es ist anzumerken, dass es in den seltensten Fällen eine 1 zu 1 Beziehung zwischen den Genen und dem daraus resultierenden Phänotyp gibt. Als Phänotyp bezeichnet man das Erscheinungsbild eines Organismus, d.h. seine tatsächlichen morphologischen und physiologischen Eigenschaften – unabhängig davon, ob sie vererbt oder erworben wurden. Die genetische Ausstattung eines Organismus, die durch seine DNA bestimmt wird, nennt man hingegen Genotyp. Viele Merkmale werden von mehreren Genen beeinflusst und ein Gen beeinflusst wiederrum eine Anzahl an Merkmalen. Wiederrum kann ein einzelnes Gen sich auf mehrere Merkmale auswirken – in diesem Fall spricht man von Pleiotropie. Dies kann Auswirkungen auf den Selektionsprozess haben. Wenn z. B. eine Population auf ein Merkmal hin selektiert wird, aber dieses Merkmal von einem Gen beeinflusst wird, dass auch für die Ausprägung anderer Merkmale relevant ist, so werden diese auch mitverändert, ohne auf diese selektiert wurde. Die Selektion der menschlichen hautfarben als Anpassung an die UV-Strahlung ist ein solches typisches Beispiel, da die Hautfarbengene auch ab der Haar- und Augenfarbe beteiligt sind. Hiernach wären die verschiedenen Haar- und Augenfarben ein „Nebeneffekt“ der Selektion auf die Hautfarbe.
Als empfehlenswerte online Literatur, was Evolution ist, ist vor allem als online Tutorial des Evolutionslehrbuches von Mark Ridley zu empfehlen, auf die sich dieses Kapitel Großteils stützt:
https://www.blackwellpublishing.com/ridley/tutorials/
Das Lehrbuch als solches trägt den Titel
Ridley, M. (2003): Evolution, Third edition Wiley-Blackwell
Natürlich sind noch weitere Evolutionslehrbücher zu empfehlen, die einen guten Überblick über das Thema (sowie die nachfolgenden Kapitel dieses Teils) liefern.
Freeman, S., Herron, J. C. (2015): Evolutionary Analysis. Pearson Education Limited; 5th edition
Futuyma, D. J. (2007): Evolution. Spektrum Akademischer Verlag
Kutschera, U. (2006) Evolutionsbiologie (2. erweiterte Auflage). Eugen Ulmer, Stuttgart.
Prothero, D. (2017): Evolution – What the Fossils say and why it matters. Second edition. New York: Columbia University Press
Storch, V., Welsch, U., Wink, M. (2001): Evolutionsbiologie
Zrzavy, Storch & Mihulka (2004): Evolution – Ein Lese-Lehrbuch, Spektrum, Akademischer Verlag
Nur eine Theorie?
Evolution wird als Theorie bezeichnet, wobei von vielen der Begriff der Theorie falsch verstanden wird, denn in der Wissenschaft hat eine Theorie eine andere Bedeutung als im Alltagsgebrauch. Der Alltagsgebrauch einer Theorie ist schlicht und einfach ein Gedanke oder eine Idee, die stimmen kann oder nicht. Dies wäre in der Wissenschaftsphilosophie eher mit einer Hypothese vergleichbar. Eine Hypothese ist eine Annahme, die weder bestätigt noch widerlegt ist. Im Forschungsprozess wird eine Hypothese gleich zu Beginn aufgestellt und das Ziel ist es, diese Hypothese entweder abzulehnen oder beizubehalten. Wissenschaftliche Theorien haben eine völlig andere Bedeutung. In der Wissenschaft fasst eine Theorie wissenschaftlich begründete Aussagen zusammen, fasst also unsere gewonnenen Beobachtungen, Experimente, Schlussfolgerungen und Prognosen zusammen und stellt die derzeit beste Annäherung an die “Realität” dar. Es beschreibt die Kausalzusammenhänge von Ereignissen, die sich in der Welt, unabhängig von unserem subjektiven Bewusstsein ereignen. Sie wird ständig überprüft, angepasst und erweitert. Damit gibt es in der Wissenschaft niemals den alle Zweifel ausräumenden endgültigen Beweis. Tatsächlich können wissenschaftliche Theorien nicht bewiesen werden, sondern müssen falsifizierbar sein. Auch hier gibt es einige Missverständnisse.
Eine Hypothese bzw. auch Theorien können als widerlegt gelten, wenn eine Beobachtung gemacht wird, die im Widerspruch zu ihr steht. So würde etwa die Aussage ‚Schwäne sind weiß‘ durch die Entdeckung eines nicht-weißen Schwans falsifiziert. Jedoch sind solche Darstellungen sehr vereinfacht und mit ihr entstehen Probleme, die aus der Komplexität wissenschaftlicher Theorien und Testsituationen für den Falsifikationismus resultieren, schlichtweg unter den Tisch fallen. Eine Theorie verkörpert keine einzelne Hypothese, sondern vielmehr ein System aus Hypothesen, das auf ein konkretes von nahezu beliebig vielen aus der Theorie ableitbaren Modellen angewandt werden muss. Was das Prinzip der Falsifikation angeht, so heißt es nicht, dass Wissenschaftler eine Theorie bzw. Hypothese widerlegen müssen, sondern, dass sie so gestellt werden muss, dass sie prinzipiell widerlegbar ist. Man macht eine Vorhersage von Gegebenheiten und anschließend deren Überprüfung in Experimenten. Falls Widersprüche reproduzierbar beobachtet werden, ist meine Theorie falsifiziert (also widerlegt und damit falsch), bestenfalls ist sie unvollständig und muss optimiert werden, z. B. durch die Erstellung von Hilfshypothesen, die sich im Experiment erneut überprüfen lassen. Ergo muss ich meine Theorie dann korrigieren oder erweitern, und die Überprüfung geht in die nächste Runde. Falls die Tests aber keine Widersprüche zutage fördern, ist meine Theorie als “bewährt” anzusehen, und je bewährter sie ist, umso sicherer kann ich sein, dass sie “stimmt”, also, dass mein theoretisches Modell in den interessierenden Aspekten die Realität treffend abbildet. Falsifikationen führen keineswegs automatisch zur völligen Aufgabe des bisher Erreichten. Nehmen wir hierfür ein Beispiel aus der Physik: Hat Einsteins Relativitätstheorie die Newtonsche Mechanik widerlegt? Nein. Nehme ich einen Stein in die Hand und lasse ihn (hier auf der Erde) fallen, dann fällt er zu Boden und tut das mit einer Beschleunigung von 9,81 m/s². Das wird immer so sein und es ist völlig egal, was Newton, Einstein oder irgendwer anderer dazu sagt. Der fallende Stein ist die Realität und selbst wenn morgen jemand ankommt und eine weitere, komplett neue Theorie der Gravitation veröffentlicht, werden Steine deswegen nicht plötzlich in den Himmel hinauffliegen. Newtons Theorie ermöglichte es, die Realität zu beschreiben. Sie war im 17. Jahrhundert dazu in der Lage und ist das auch noch im 21. Jahrhundert. Mit dieser Theorie können wir Raketen ins Weltall schicken und Raumsonden zu anderen Planeten schicken. So gut wie jedes Phänomen hier auf der Erde, das mit Gravitation zu tun hat, lässt sich damit wunderbar beschreiben und die Abweichungen zwischen Theorie und Beobachtung sind so gering, dass man sie ignorieren kann. Aber keine physikalische Theorie ist absolut perfekt, in manchen Fällen sind die Abweichungen zu groß. In diesen Fällen scheint Newtons Modell keine ausreichend gute Annäherung an die Realität zu sein. Das sind Fälle, in denen sich Objekte sehr, sehr schnell (fast so schnell wie das Licht selbst) bewegen oder sehr, sehr schwer sind (so schwer wie ein ganzer Stern oder noch schwerer). Genau hier kommt jetzt Albert Einstein ins Spiel, der mit der Relativitätstheorie diese Phänomene umfassender beschreibt als Newton. Das Verhältnis zwischen der Newtonschen und der Einsteinschen Theorie ist daher nicht das von ‘falsch’ und ‘richtig’.
In Bezug zur Evolutionsbiologie bedeutet das, dass offene Detailfragen über den Ablauf und die Triebkräfte der Evolution, sowie offene Fragen welche Gruppe von Lebewesen näher miteinander verwandt sind, die Lückenhaftigkeit des Fossilberichts etc., die Evolutionstheorie nicht widerlegen. Offene Fragen sind der Antrieb der Evolutionsforschung. Im Übrigen sind unvollständig erklärte und unvollständig beschriebene Sachverhalte der Normalfall in der empirischen Wissenschaft. Offene Fragen kann man nicht für die Widerlegung einer Theorie halten. Man muss sie im Rahmen eines Forschungsprogramms klären und die Theorie sukzessive modifizieren. Nicht anders funktioniert Wissenschaft. Gleichzeitig lässt sich aber die Evolution problemlos falsifizieren, wenn sich Daten finden, die auch mit den Hilfs- und Indikator-Hypothesen nicht im Einklang zu bringen sind. Kurzum: Das Auffinden von Menschenfossilien im Präkambrium wäre ein sichtbares Problem für die Evolutionstheorie, Lücken im Fossilbericht jedoch nicht, alleine wegen der Tatsache, dass der Prozess der Fossilisation ein sehr seltenes Ereignis ist und längst nicht alle Arten zum Fossil werden.
Immer wieder wird behauptet, eine Wissenschaft mit historischer Komponente, wie die Evolution, könne keine empirische Wissenschaft sein, da sich ihr Untersuchungsobjekt der direkten Untersuchung, dem Experiment, entziehe. Dem liegt ein völliges Unverständnis des Konzepts ‘Empirie’ zugrunde. Das direkte Experiment ist nur eines von mehreren Werkzeugen der Empirie. Ich kann im Labor keine Sonne brennen lassen, kein Gebirge wachsen lassen, die Evolution der Wirbeltiere nicht wiederholen – dies alles ist aber nicht entscheidend, weil unnötig! Ich muss nicht auf der Sonne gewesen sein, um zu wissen wie Fusionsprozesse entstehen.
Ein Chemiker kann zwar im Experiment eine chemische Reaktion beobachten und beschreiben. Aber um diesen Beobachtungen eine Erklärung zu geben, muss der Chemiker auf die Existenz nicht erfahrbarer Theorien zurückgreifen, so auf den Aufbau von Atomen und Molekülen. Niemand ist auf der elementaren Ebene dabei, wenn sich die Materie wandelt, daran ändert auch die Wiederholbarkeit eines Experiments nichts! Deshalb kann ein Chemiker nicht die Existenz der postulierten Atome theoriefrei aus dem Experiment ableiten. Wollten wir die Wissenschaftsauffassung der Evolutionsgegner ernst nehmen, müssten wir daher nicht nur die Abstammungshypothese, sondern unter anderem auch die Atomtheorie, die Standardtheorie der Elementarteilchen und die Relativitätstheorie für “außerwissenschaftliche” und unbeweisbare “Grenzüberschreitungen” halten. Ja selbst Morduntersuchungen mit Fingerabdrücken, Zeugenaussagen und DNA-Test könnten keinen Möder überführen, wenn Staatsanwalt und Richter den Mord nicht selbst beobachtet haben.
Andererseits kann die Schöpfungsgeschichte aus erwähnten Gründen nicht als „Alternative“ zur Evolution gelten, denn ein Schöpfer kann nicht prinzipiell widerlegt werden. So kann man etwa die Ähnlichkeit zwischen den Arten als Hinweis auf ein „göttliches Baukastenprinzip“ werten, genauso gut aber auch den gegenteiligen Befund (die vollkommene Unähnlichkeit der Arten) mit der „Phantasie des Schöpfers“ erklären. So könnte er Fische mit Haaren produzieren, er könnte ein Säugetier erschaffen, welches vier Beine und zwei Paar Flügel hätte und kein Wirbeltier ist oder einen Käfer, der nicht gleichzeitig ein Insekt ist. Er muss sich auch nicht an grobe zeitliche Einordnung des Fossilberichtes halten. Zeige mir einen einzigen menschlichen Schädel als Beuteüberrest in einem Dinosauriernest, und wieder begraben wir die Evolutionstheorie. In der Evolution trennen sich evolutionäre Linien voneinander, verwachsen aber nicht wieder zusammen. Finde eine Nashornart, die ihren Körperbauplan so verändert, dass sie zu einem Nashornkäfer wird, also vom Säugetier zum Insekt wird, und mit den anderen Nashornkäferarten identisch ist und sich fruchtbar kreuzen kann. Solche Funde würden zweifelsohne alle bisherigen Erkenntnisse der Evolutionstheorie über die gemeinsame Abstammung in Frage stellen. Aber bisher ist dies nicht eingetreten. Natürlich könnte man einwenden, dass ein intelligenter Designer, der dieselben Materialien nutzt, homologe Ähnlichkeiten erschaffen haben könnte. Aber bei der enormen Vielfalt an Lebewesen und der unterschiedlichen Anpassungsstrategien ist es unwahrscheinlich, dass ein intelligenter Designer dahintersteckt. Denn bei jedem erdenklichen Beispiel lässt sich die gemeinsame evolutionäre Abstammung belegen. Damit lässt sich das gewünschte Ziel, nämlich die Schöpfungsthese wissenschaftlich zu rechtfertigen, nicht erreichen, weil der Gedankengang methodisch fragwürdig ist. Eine solche Behauptung, dass dahinter ein gemeinsamer Schöpfer steckt, enthält kein wissenschaftliches Argument gegen die Evolution, weil praktisch alle Fakten auf diese Weise erschlossen werden, es wird also für alles ein Schöpfer postuliert. Man kann dann nur noch die Methode der Naturwissenschaft generell infrage stellen und damit den Boden der wissenschaftlichen Argumentation verlassen.
Die Evolutionstheorie muss damit leben, dass viele Entwicklungslinien im Dunkeln verlaufen und die Wurzeln, bzw. die genauen Aufspaltungspunkte zweier Organismengruppen nicht bestimmt werden können. Dennoch kann sie eine größenordnungsmäßige Aussage darüber machen, wann in etwa sich welche neuen Typen entwickelt haben. Und daher sind weder die letzte Episode, noch diese und die anschließenden irgendeine mythische Märchenerzählung, sondern fußen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn ein Evolutionsgegner sich diese Serie anschaut, so steht es ihm frei, alles Gesagte hier zu widerlegen und sein Schöpfungsmodell als eine wissenschaftliche Alternative zu postulieren. Vielleicht entsteht daraus eine Folgeserie. Ich wäre gespannt.
Grundlagen für das Verständnis, was eine wissenschaftliche Theorie (im Zusammenhang zur Evolutionsbiologie und Kreationismus) sind folgende Literaturquellen zur Vertiefung zu empfehlen:
AG Evolutionsbiologie (2024): Warum ist Wissenschaft an den Naturalismus gebunden? https://www.ag-evolutionsbiologie.de/wissenschaftstheorie/wissenschaft-und-naturalismus/
Beyer, A. (2021): Die Evolutionstheorie: Naturwissenschaft oder Naturgeschichte? Buchbesprechung: Schöpfung ohne Schöpfer? – Teil 3 https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2021/evolutionstheorie-naturwissenschaft-naturgeschichte.html
Hemminger, H. (1988): Kreationismus zwischen Schöpfungsglaube und Wissenschaft https://www.ag-evolutionsbiologie.de/pdf/1988/ezw16.pdf
Mahner, M. (2007): Intelligent Design und der teleologische Gottesbeweis https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2008/intelligent-design-teleologischer-gottesbeweis.html
Mahner, M.; Bunge, M. (2000): Philosophische Grundlagen der Biologie. Springer: Berlin.
Neukamm, M. (2004): Kreationismus und Intelligent Design. Über die wissenschaftsphilosophischen Probleme von Schöpfungstheorien. www.martin-neukamm.de/kreation.pdf
Neukamm, M. (2009, Hrsg.): Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus. Darwins religiöse Gegner und ihre Argumentation. Vandenhoeck & Ruprecht.
Neukamm, M. (2015): Schöpfung: Die Grundtypen des Kreationismus https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2015/grundtyp-modell-verfehlte-kritik.html
Neukamm, M. (2019): Ist die Evolutionsbiologie eine Naturwissenschaft? https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2019/evolutionsbiologie-naturwissenschaft.html
Neukamm, M. (2020): Evolution und das Design-Argument in der Biologie https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2020/evolution-design-argument-biologie.html
Neukamm, M. (2021): Kreationismus und Intelligent Design: doch kein Lückenbüßer? Das stochern in Wissenslücken ist kein Argument gegen Evolution https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2021/intelligent-design-lueckenbuesser-argument.html
Neukamm, M., Hemminger, H. (2021): Das Argument der Designfehler (unintelligentes Design) Warum sich der Eindruck von Schöpfung in der Evolution verflüchtigt https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2021/evolution-designfehler-unintelligentes-design.html
Riedl, R.; Krall, P. (1994): Die Evolutionstheorie im wissenschaftstheoretischen Wandel. In: Wieser, W. (Hrsg.): Die Evolution der Evolutionstheorie. Von Darwin zur DNA. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 234-266.
Waschke, T. (2003) Intelligent Design. Eine Alternative zur naturalistischen Wissenschaft? Skeptiker 16(4), 128–136.
Waschke, T. (2007): Warum Intelligent Design im Bereich der Naturwissenschaften derzeit keine Existenzberechtigung hat. In: Kutschera, U. (2007) Kreationismus in Deutschland. Lit-Verlag, pp. 109-115 https://www.ag-evolutionsbiologie.de/html/2007/waschke_id.html
Wieser, W. (Hrsg. 1994): Die Evolution der Evolutionstheorie Von Darwin zur DNA, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, Oxford
Kladistik
Ein Kerngedanke der Evolution ist, dass alle Arten von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen, die jemals auf der Erde gelebt haben, auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Das heißt, alle Lebewesen sind miteinander verwandt und lassen sich in einem evolutionären Stammbaum darstellen. Ein solcher Stammbaum stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen einer Gruppe von Organismen dar, wie sie nach Darwins Theorie der Abstammung mit Modifikation von gemeinsamen Vorfahren verstanden werden.
Der erste Versuch, alle Lebewesen zu klassifizieren, war das Systema naturae, das 1735 von Linneus veröffentlicht wurde, einem schwedischen Arzt, Botaniker und Zoologen, der die vergleichende Anatomie aller Lebensformen besser kannte als jeder andere bis dahin. Als er jedoch versuchte, die seiner Meinung nach verschiedenen Lebensformen zu klassifizieren, entdeckte er bald, dass es keine klar voneinander getrennten Kategorien gab, sondern alles in einer Hierarchie von Eltern- und Tochtergruppen angeordnet war, was auf mehrere Abstammungslinien schließen ließ. Linneus lebte ein Jahrhundert vor Darwin und hatte zu seiner Zeit noch keine Vorstellung von der Evolution. Man ging davon aus, dass Arten unveränderlich seien. Als er also entdeckte, was bereits wie ein taxonomischer Stammbaum aussah, hatte er zu seiner Zeit keine Möglichkeit, dies zu erklären. Das war ein völliges Rätsel, bis Darwin erkannte, wie sich Arten im Laufe der Zeit verändern konnten. Mit diesen neuen Informationen wandte er sich der Systema naturae zu, und all die verschachtelten Hierarchien der Linne’schen Taxonomie machten plötzlich Sinn. Diese verschachtelte Hierarchie bedeutet, dass jede untere Kategorie immer Teil der nächst höheren ist. Linne unterschied für das Tierreich sieben taxonomische Kategorien: Art, Gattung, Familie, Ordnung, Klasse, Stamm und Reich. Wir Menschen bilden eine eigenständige Art (Homo sapiens) und gehören in die Gattung Homo, in die Familie der Menschenaffen, die Ordnung der Primaten, die Klasse der Säugetiere, den Stamm der Chordaten und das Reich der Tiere. Aber schon sehr früh hat man erkannt, dass diese sieben Kategorien nicht ausreichend sind, um Lebewesen sorgfältig zu kategorisieren. So lassen sich Gattungen auch in Untergattungen aufteilen, aber ähnliche Gattungen auch in Gattungsgruppen („Tribus“) zusammenfassen. Dann gäbe es noch Unterfamilien, Überfamilien, Untergattungen usw. usf. Viele dieser Ränge haben noch nicht einmal einen Namen. Dieses Ordnungsprinzip muss auch evolutionäre Verwandtschaft widerspiegeln und man muss nach Merkmalen suchen, die geeignet sind, verwandtschaftliche Beziehungen zu ermitteln. Das ist die Aufgabe der phylogenetischen Systematik oder Kladistik. Die Grundaussage ist wie folgt: die Merkmale eines Lebewesens sind nicht gleichwertig, sondern ein Mosaik aus ursprünglichen Merkmalen (auch Plesiomorphien genannt), die von einem alten Vorfahren stammen und abgeleiteten Merkmalen, die man Apomorphien oder evolutive Neuheiten nennt. Und genau diese Apomorphien definieren eine evolutionäre Abstammungsgemeinschaft oder auch Monophylum genannt. Welche Merkmale das sind, das kommt auf den Untersuchungsgegenstand an und kann teilweise sehr kleinlich sein. Um es mal an einem einfachen Beispiel zu verbildlichen: Was unterscheidet die Klasse der Säugetiere z. B. von der Klasse der Vögel? So haben Säugetiere Haare und ernähren ihre Jungtiere mit Milch. Das wären evolutive Neuheiten, die nur Säugetiere haben, also eine Apomorphie. Das Vorhandensein eines Innenskeletts wäre für Vögel und Säugetiere eine Plesiomorphie, weswegen beide auch zu der höheren Kategorie der Wirbeltiere gehören. Betrachten wir Gruppen innerhalb der Säugetiere, wie Raubtiere, Primaten und Huftiere, sind die genannten Merkmale wiederrum Plesiomorphien, daher müssen wir innerhalb der Säugetiere nach spezifischeren Merkmalen ausschauhalten, die Raubtiere von Primaten unterscheiden. Durch diese Merkmalssortierung, durch das Betrachten gemeinsamer Merkmale, lassen sich Lebewesen in einem Stammbaum gruppieren. Und je weiter man zur Wurzel des Stammbaums reicht, desto „verdeckter“ werden die gemeinsamen Merkmale, bei genauerer Betrachtung sind sie jedoch offensichtlich.
Die kleinste Einheit der Taxonomie ist die der Art und die Einzige, die auch eine Definition hat – oder besser gesagt es gibt mehrere Artdefinitionen.
Der biologischen Artdefinition zur Folge gehören alle Individuen zu einer Art an, die (potentiell) fruchtbare Nachkommen zeugen können. Dieses Artkonzept hat aber einige Probleme: es ist z. B. experimentell schwer überprüfbar, man schaut ja nicht jedem Tier bei der Paarung zu und bei ausgestorbenen Arten ist das ohnehin nicht möglich, genauso wie z. B. bei Bakterien, die ja gar keinen Sex haben. Außerdem treten auch bei zwei verschiedenen Arten gelegentlich Hybriden auf.
Wenn neue Arten beschrieben werden, gerade bei Fossilien, geht man eher von morphologischen Merkmalen aus. Hier besteht aber die Gefahr, dass man sich auch nie ganz sicher sein kann, ob es nicht doch Variationen innerhalb einer Art sein können. Schaut man sich z. B. die Skelette von einem Gorillamännchen und einem Gorillaweibchen an, könnte das ungeübte Auge sie für zwei verschiedene Arten halten. Wir wissen es hier natürlich besser, weil eben Gorillas (noch) existieren, aber bei fossilen Taxa ist das nicht immer so einfach.
Andere Artdefinitionen heben des Weiteren nur für sie typische Merkmale hervor oder sehen sie als evolutionäre Abstammungsgemeinschaft, hier spricht man vom phylogenetischen oder evolutionären Artkonzept.
Warum es so viele verschiedene Artkonzepte gibt, hat mehrere Gründe. Zum einen liegt es an der Vielfalt und Komplexität der Lebensformen. Bestimmte Artkonzepte passen für Säugetiere besser als z. B. für Pflanzen und Bakterien. Zum anderen ist Evolution ein sich immer verändernder Prozess: neue Arten entstehen, andere sterben aus und die jetzigen Lebewesen sind nur eine Momentaufnahme eines kontinuierlichen Prozesses von Abstammungsgemeinschaften, wo jede Linie zwischen den Arten insofern künstlich ist, und diese Linien können wir ziehen, weil eben auch viele Arten ausgestorben sind.
Manche Wissenschaftler gehen soweit und sagen, dass Artkonzepte unnötig und rein künstlich seien, die Realität nicht wirklich widerspiegeln. Doch so weit würde ich nicht gehen wollen.
Es gibt ein starkes Argument dafür, dass Arten im Sinne der Kladistik tatsächlich existieren. Die Realität ökologischer und reproduktiver Abstammungslinien zu jeder Zeit garantiert, dass die phylogenetische Hierarchie echte Verzweigungen aufweist und dass es phylogenetische Arten gibt.
Die Existenz solcher phylogenetischen Arten zu leugnen, würde bedeuten, die Existenz eines phylogenetischen Stammbaums des Lebens zu leugnen. Wir können daher schlussfolgern, dass Arten im reproduktiven, (wahrscheinlich) ökologischen und kladistischen Sinne reale und keine künstlichen Einheiten in der Evolutionstheorie sind. Ich bin der Meinung, dass sie außerhalb unseres Verstandes existieren. Sie existieren aufgrund des Evolutionsprozesses, aufgrund der Tatsache, dass Abstammungslinien durch die Zeit gehen und sich aufspalten und unabhängig voneinander weiterentwickeln und sich dann wieder aufspalten, und so entsteht der Baum des Lebens.
Sicher, irgendwann kommt man an einen Punkt, wo die Grenzen verschwimmen, wo wir nicht klar sagen können, ob wir eine neue Art haben oder nicht. Aber diese Grenzen sind nicht chaotisch im Stammbaum des Lebens verteilt, sondern Resultat des kontinuierlichen Artbildungsprozesses. Dasselbe trifft auch für die Hybridisierung zwischen verschiedenen Arten zu. Die gab es und die gibt es. Dies kommt aber nur bei phylogenetisch sehr nah verwandten Arten gelegentlich vor, zwischen Vertretern derselben Gattung, deren evolutionäre Linien sich erst vor relativ kurzer Zeit getrennt haben. So war eine Kreuzung zwischen Menschen und Neandertaler vorhanden – aber nicht zwischen Menschen und den meisten anderen Verzweigungen im Stammbaum des Lebens.
Die Probleme mit der ‘Artdefinition’ entstehen nicht etwa, weil es keine Arten gäbe und weil sie nur die durch uns gebildeten Kategorien wären, mit deren Hilfe wir uns in der komplizierten Welt orientieren. Gerade im umgekehrten Fall – wenn die Arten nur logische Klassen wären (wie ‘Obst’ und ‘Gemüse’) – würden wir uns schon irgendwie einigen. Die Schwierigkeit liegt nur darin, dass die Arten als unabhängige evolutionäre Individuen der höheren Ordnung wirklich existieren, und gerade, weil die Arten lebendig, veränderlich und unbeständig sind, vor unseren Augen entstehen, und aussterben oder langsam verschmelzen, kann man sie nicht dadurch festmachen, dass man sie in irgendeine Schublade steckt, die sie alle genau abgrenzen würde. Unsere Neigung, die Dinge um uns zu sortieren, stößt hier auf eine reale und sich stets verändernde Realität. Auf den ersten Blick kann man also, paradoxerweise, die Arten genau deswegen nicht definieren, weil es sie wirklich gibt.
Um die Grundlagen der Kladistik zu verstehen, empfehle ich das Kladistik-Tutorial von mir. Neben diesem Tutorial und den dort enthaltenden Quellen liefert auch ein jedes Evolutionslehrbuch, wie die zuvor zitierten) ein oder mehrere Kapitel zu dieser Thematik.
Die älteren Artikel tragen den Titel“ Phylogenetische Systematik“, die neueren Artikel gehen teilweise vertiefend an die Methoden der Kladisitik heran:
Phylogenetische Systematik Teil 1: Taxonomie: https://internet-evoluzzer.de/youtube-video-phylogenetische-systematik-teil-1-taxonomie/
Phylogenetische Systematik Teil 2: Kladistik: https://internet-evoluzzer.de/yotube-video-phylogenetische-systematik-teil-2-kladistik/
Phylogenetische Systematik Teil 3: Stammbaum des Lebens: https://internet-evoluzzer.de/youtube-video-phylogenetische-systematik-teil-3-stammbaum-des-lebens/
Phylogenetische Systematik Teil 4: Homologie: https://internet-evoluzzer.de/phylogenetische-systematik-teil-4-homologie/
Kladisitik Tutorial Teil 1 (nur als Video verfügbar): https://www.youtube.com/watch?v=vSZbG7b-aI0
Kladistik Tutorial 2: Stammbäume richtig lesen: https://internet-evoluzzer.de/kladistik-tutorial-2-stammbaeume-richtig-lesen/
Kladistik-Tutorial 3: Homologie und verschachtelte Hierarchien in Kladogrammen: https://internet-evoluzzer.de/kladistik-tutorial-3-homologie-und-verschachtelte-hierarchien-in-kladogrammen/
Kladistik Tutorial 4: Maximum Parsimonie: https://internet-evoluzzer.de/maximum-parsimonie/
Kladistik Tutorial 5: die Phylogenie der Wale: https://internet-evoluzzer.de/die-phylogenie-der-wale/
Als weitere Literaturempfehlungen sind folgende Werke zu nennen:
Hall, B. G. 2011. Phylogenetic Trees Made Easy: A How-To Manual. 4th ed. Sunderland, MA: Sinauer
Hennig, W. (1950): Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik. Deutscher Zentralverlag, Berlin
Hennig, W. (1966): Phylogenetic Systematics. University Illinois Press, Urbana
Wägele, J. W. (2001): Grundlagen der Phylogenetischen Systematik. Pfeil, F; Auflage: 2
Fossilien
Dass wir Arten voneinander in den meisten Fällen leicht voneinander abgrenzen können, hat auch damit zu tun, dass die meisten von ihnen ausgestorben sind. Einige wenig werden aber fossil überliefert. Fossilien sind die Überreste ausgestorbener Lebewesen und wir konzentrieren uns auf die evolutionären Übergänge, die zu uns Menschen führen. Das führt bei einigen zu Missverständnissen, wie Übergangsformen eigentlich definiert werden. Einige werden fragen, wenn der Mensch vom Affen abstammt, wieso gibt es dann noch Affen? Andere haben die Vorstellung, dass eine Art von Organismen eine völlig neue Art hervorbringen müsse, z. b., dass ein Hund eine Katze gebärt oder aus dem nichts völlig neue Organe wie einen Flügel entstehen.
Die Evolution beschreibt allmähliche morphologische Veränderungen über enorme Zeitspannen und Tausende oder sogar Millionen von Generationen innerhalb von Organismenpopulationen, entsprechend evolutionären Abstammungslinien, die durch die Fossilienaufzeichnungen gut bekannt sind. Diese Veränderung erfolgt nicht plötzlich, sondern graduell. Sehen wir uns diesen Streifen an, in dem Blau langsam zu Rot wird. Blau ist eine Art und Rot ist eine andere Art. Jeder Pixel dazwischen ist ein Organismus. Jeder Pixel ist praktisch ununterscheidbar von denen auf beiden Seiten. Aber diese sehr langsame Veränderung führt schließlich zu unterschiedlichen Farben. Der genaue Punkt, an dem eine neue Art entsteht, ist unklar und vielleicht sogar etwas willkürlich, aber auch irrelevant, da nicht alle dieser Zwischenorganismen überleben. Wir bezeichnen die verschiedenen Arten entsprechend den Populationen von Organismen, die sich auseinanderentwickeln, isolieren und weiter differenzieren. Ein solches Gefälle findet auf jedem einzelnen winzigen Zweig des phylogenetischen Stammbaums des Lebens statt.
Eine gute Analogie lässt sich durch die Entwicklung der Sprachen demonstrieren: Vergleicht man Spanisch und Französisch miteinander, wird auffallen, dass es zwischen beiden Sprachen Gemeinsamkeiten gibt. Das ist kein Zufall, denn spanisch und französisch stammen, neben anderen Sprachen, vom Lateinischen ab. Jedoch können wir ziemlich sicher sein, dass zwei lateinisch sprechende Eltern nicht ein Kind auf die Welt brachten, dass Französisch oder Spanisch sprach. Wie bei sich evolvierenden Populationen, entwickelten sich die Sprachen über Generationen und Zeiträume. Kleine Änderungen in der Aussprache, kleine grammatikalische Änderungen oder Wortneuschöpfungen über mehrere Generationen in isolierten Populationen sorgten dafür, dass sich aus der ursprünglichen lateinischen Sprache über diverse Dialekte französisch, spanisch, portugiesisch und italienisch entwickelten.
Diejenigen, die behaupten, solche Übergangsstrukturen seien unmöglich, liegen in mehrfacher Hinsicht objektiv falsch. Die Fossilien belegen eindeutig ihre Existenz, aber darüber hinaus sind solche Strukturen auch in lebenden Organismen zu finden. Schauen wir uns nur ein beliebiges Beispiel an, wie zum Beispiel den Schlammspringer. Das ist buchstäblich ein Fisch, der läuft. Das ist eine reale Sache, die es heute gibt, und es ist genau die Art von Organismus, die Kreationisten völlig unbekannt ist. Es geht nicht darum, dass die Übergangsarten in der Evolution der Tetrapoden genauso aussahen, sondern es ist einfach der Beleg dafür, dass Organismen mit einer Morphologie, die ein gewisses Schwimmen und ein gewisses Verhalten an Land ermöglicht, ganz offensichtlich möglich sind, denn es gibt sie, und alle können sie sehen.
Kreationisten und andere Kritiker sagen, dass z. B. bestimmte Fossilien nicht der Vorfahre heutiger Arten sein kann, denn er tauche z. B. im Fossilbericht zu spät auf oder sei in seinen Merkmalen zu spezialisiert. Wir werden in der Serie an passenden Stellen darauf eingehen. Machen wir es hier mit einer Abstammungsgemeinschaft, die nicht zu uns Menschen führt, nämlich den Übergang von Dinosauriern zu Vögeln. Kreationisten sagen, dass Fossilien wie Archaeopteryx zu spezialisiert seien und sich nicht alle Merkmale in einem Übergangsstadium befinden und daher nicht der direkte Vorfahre der Vögel sein kann. Sie werden auch sagen, dass ursprünglichere Arten oft in stratigraphisch jüngeren Schichten zu finden sind. So wird z. B. behauptet, dass die meisten Theropoden-Dinosaurier-Gattungen, die vogelartige Merkmale besitzen, z. B. die Raptoren, geologisch jünger sind als die geologisch ältesten Vögel, wie Archaeopteryx. Es liege also eine „stratigraphisch-phylogenetische Diskrepanz“ vor.
Diese Argumente lassen sich jedoch leicht entkräften. Fossilisation ist ein sehr seltenes Ereignis. 99% aller Arten, die jemals existiert haben sind ausgestorben, doch nur ein Bruchteil wird zum Fossil. Aufgrund dieser bruchstückhaften Überlieferung kann man nicht ermitteln, ob Fossil x der direkte Vorfahre der modernen Art Y ist. Wenn wir Fossilien finden und sie verwandtschaftlich in die Nähe rezenter Arten rücken, sagen wir nicht, dass wir genau den Vorfahren entdeckt haben, der direkt zur untersuchten heute lebenden Art führte. Wir sagen lediglich, dass dieses Fossil eine Reihe von Merkmalen mit heute lebenden Arten hat, die auf eine gemeinsame Abstammung hindeuten. Es ist, wenn überhaupt, dann ein “Vorfahre” im weitesten Sinne. Und in der Tat zeigen Fossilien oft stark spezialisierte, für die jeweilige Art charakteristische Merkmale, die sie als direkte Vorfahren heutiger Arten ausschließen oder zumindest unwahrscheinlich machen. Es wäre aber unsinnig zu fordern, dass die Übergangsformen wie die Perlen einer Kette in gerader Linie von den mesozoischen Vorfahren zu den modernen Arten führen müssten. Ein solches für Kreationisten typisches Denken ist „oberflächlich und erinnert an das vor-evolutionäre Konzept der ‘Stufenleiter’. Evolution ist ein sich stetig verzweigender Prozess, der eine zunehmende Anzahl an Entwicklungslinien hervorbringt. Passen sich einzelne Arten an einen Lebensraum an, steht ein oder einige Merkmale unter einem hohen Selektionsdruck, andere Merkmale wiederrum nicht. Entsprechend evolvieren einzelne Merkmale besonders schnell, während andere zurückbleiben. Der Beweiswert fossiler Übergangsformen liegt darin, dass sie einander abgestuft ähnlich sind, sodass sie sich in eine Abfolge bringen lassen, in der ihre Morphologie mehr und mehr die Gestalt moderner Organismen annimmt. Deswegen vermittelt Archaeopteryx den Übergang zwischen theropoden Dinosauriern und modernen Vögeln, ohne der direkte Vorfahre aller modernen Vögel zu sein.
Die Erklärung für die „stratigraphisch-phylogenetische Diskrepanz“ ist ebenfalls denkbar einfach: Als in einigen Entwicklungslinien fortschrittlichere evolvierten, starben die Arten mit primitiveren Merkmalen keineswegs aus. Durch Artaufspaltungen existieren verschiedene Evolutionslinien gleichzeitig. Als sich die evolutionäre Linie aufspaltete und eine Linie sich zu den modernen Vögeln entwickelte, existierte die andere evolutionäre Linie ebenso weiter und hatte ihre eigenen Evolutionslinien beschritten. Es ist zu betonen, dass es auf die phylogenetischen Beziehungen der Gruppen ankommt, nicht auf ihre stratigraphischen Beziehungen. Kladogramme spiegeln nicht die genaue zeitliche Abfolge der entdeckten Fossilien und ihrer evolutionären Veränderungen wider. Dafür ist der Fossilbericht nur stichprobenartig und dazu noch ungleich über die Jahrmillionen verteilt. Stattdessen liefert die Kladistik ein vergleichendes Modell der Stammesentwicklung, indem es fossile Lebewesen allein anhand ihrer in bestimmten Merkmalen verkörperten Entwicklungsstufe platziert. Um die Abstammungslinie von Dinosauriern zu den Vögeln zu erkunden, gilt es also, das jeweilige Maß an Übereinstimmung anhand von Merkmalen zu ermitteln, die fossile Lebewesen mit den Vögeln teilten oder in denen sie sich unterschieden – und dasselbe gilt auch für unsere eigene Evolutionsgeschichte. Die entdeckten Fossilien sind lediglich Repräsentanten dieser Merkmalsevolution, nicht zwingend die direkten Ahnen der Gruppen und können daher auch, bedingt, dass auch ihre Linien eine eigene Evolution hatten, stratigraphisch an der falschen Stelle liegen oder spezialisierte Merkmale aufweisen. Gleichwohl entspricht „die Abfolge der Fossilien in der Zeit hinsichtlich ihrer morphologischen Änderung keiner Zufallsfolge“. Mit abnehmendem Alter der Schichten finden sich dort erwartungsgemäß zusehends Organismen, die den heute lebenden Arten ähnlicher sehen.
Zum Thema Fossilien gibt es eine Reihe Texte und Videos von mir:
Fossilien als Übergangsformen: https://internet-evoluzzer.de/fossilien-als-uebergangsformen/
Fossilien Tutorial: https://internet-evoluzzer.de/fossilien-tutorial/
Gradualismus und Punktualismus: https://internet-evoluzzer.de/gradualismus-und-punktualismus/
Evolution for IDitos: evolutionäre Übergänge, Zwischenformen, Brückentiere: https://internet-evoluzzer.de/evolution-for-iditos-evolutionaere-uebergaenge-zwischenformen-brueckentiere/
Kreationismus und die Arche Noah: https://internet-evoluzzer.de/kreationismus-und-die-arche-noah/
Zusätzlich sind noch folgende Werke zu empfehlen:
Neukamm, M. (2008): Die evolutionäre Zwischenform Tiktaalik roseae https://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2008/tiktaalik.html
Neukamm, M., Kutschera, U. (2006): Zwischenformen und Modellsysteme der Evolutionsbiologie. www.martin-neukamm.de/mudskipper.pdf
Oschmann, W. (2016): Evolution der Erde. Utb, Kapitel 1.2 („Zeit“); S. 16-20
Ochmann, W. (2018): Leben der Vorzeit. Utb, Kapitel 7 („Stratigraphie“), S. 85-92
Prothero, D. (2017): Evolution – What the Fossils say and why it matters. Second edition. New York: Columbia University Press, insbesondere Kapitel 3 „The Fossil Record“
Prothero, D. (2021): The Evolving Earth. Oxford University Press
Prothero, D. & Dott, (2004): Evolution of the Earth, Seventh edition. McGrawHill
TALKORIGINS: Archaeopteryx http://www.talkorigins.org/indexcc/CC/CC214_1_1.html
Erdzeitalter
In diesem Exkurs zu den Basics der Evolutionsbiologie wollen wir auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen: die Zeit.
Unsere Erde hat ein Alter von ca. 4,5 Mrd. Jahren. Das Alter der Erde kann durch radiometrische Datierung absolut bestimmt werden. Der Schlüssel zur absoluten Altersbestimmung sind radioaktive Isotope, die mit einer konstanten Geschwindigkeit zerfallen. Jedes Atom hat einen Atomkern und eine Atomhülle. In der Atomhülle befinden sich die negativ geladenen Elektronen. Im Atomkern befinden sich die positiv geladenen Protonen und die ungeladenen Neutronen. Die Anzahl der Protonen im Atomkern bestimmt die Art der Atome. Man spricht von Elementen, die dann im Periodensystem der Elemente aufgelistet sind. Unterscheidet sich die Zahl der Neutronen in einem Element, spricht man von Isotopen. So hat das Element Wasserstoff ein Proton, wodurch es als Element „Wasserstoff“ (H) definiert wird. Die Zahl der Neutronen kann beim Wasserstoff von 0 bis 2 variieren, wobei der gewöhnliche Wasserstoff ohne Neutronen, das Portion, am häufigsten vorkommt. Entscheidend für die Altersdatierung ist, dass einige Isotope instabil sind, d. h. die Atomkerne zerfallen, indem sie Elementarteilchen abgeben und wandeln den Atomkern um, bis ein stabileres Isotop entsteht. Man spricht allgemein von radioaktiver Strahlung. Der Zerfall solcher Isotope in ein anderes Element unter Freisetzung radioaktiver Strahlung erfolgt in einer konstanten, temperaturunabhängigen Geschwindigkeit, die als Halbwertszeit angegeben wird. Sie ist definiert als jene Zeit, die seit der Entstehung des instabilen Isotops, des Radionuklids, abgelaufen ist, bist exakt die Hälfte der Probe zerfallen ist. Diesen konstanten Zerfall, der unter allen physikalischen Bedingungen gleich abläuft, nutzt man zur Datierung von Gesteinen, da viele Gesteine solche Radionuklide besitzen. Je nachdem welche Isotopen man untersucht gibt es verschiedene Datierungen. Bekannt sind z. B. die Uran-Blei oder die Kalium-Argon-Methode, die für die Datierung älterer Gesteinsproben.
Die radiometrische Datierung funktioniert nur bei magmatischen Gesteinen. Fossilien finden sich aber nur in Sedimentgesteinen, deren Alter also in den seltensten Fällen direkt ermittelt werden kann. Finden sich jedoch zwischen den Sedimentschichten Ablagerungen magmatischer Gesteine – z. B. Vulkanasche, können diese dann radiometrisch datiert werden. Die Sedimentablagerung, die sich zwischen zwei datierbaren Schichten ablagert gibt die Zeitspanne wieder, in der sich die Sedimentschicht bildet.
Wie man ein Jahr in Monate, Wochen und Tage einteilen kann, wird die Erdgeschichte in verschiedene Zeitabschnitte eingeteilt. Werden die Zeitabschnitte der Erdgeschichte absolut bestimmt, spricht man von Geochronologie, orientiert man sich an Leitfossilien oder anderen stratigraphischen Merkmalen von Geostratigraphie. Die einzelnen Namen der Intervalle sind in beiden Konzepten identisch und miteinander verknüpft.
Geochronologisch teilt man die Erdgeschichte in mehrere Hierarchieebenen auf.
Die höchste Hierarchieebene ist die des Äons, die dann wieder in Ären, Perioden, Epochen und Alter unterteilt werden. Die Erdgeschichte wird in vier Äonen geteilt: Hadaikum, Archaikum, Proterozoikum und Phanerozoikum. Hadaikum, Archaikum und Proterozoikum fasst man auch gerne als Präkambrium zusammen. Diese drei Äonen machen 4 Mrd. Jahre, also 90% der Erdgeschichte aus.
Das vierte Äon, das Phanerozoikum, welches mit ca. 542 Mio. Jahren gerade mal 12% der gesamten Erdgeschichte ausmacht, wird in drei Ären und 12 Perioden aufgeteilt und dort finden wir die allermeisten Nachweise von Leben durch Fossilien.
Die drei Ären sind Paläozoikum, Mesozoikum und Känozoikum. Alle drei Ären haben auch einen deutschen Namen: Erdaltertum, Erdmittelalter und Erdneuzeit.
Das Paläozoikum hat die Perioden: Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Karbon und Perm.
Das Mesozoikum wird in die Perioden Trias, Jura und Kreide unterteilt.
Das Känozoikum wird unterteilt in die Perioden Paläogen, Neogen und Quartär. Paläogen und Neogen wurden früher als Tertiär zusammengefasst.
Hier werden die einzelnen Perioden nochmals in Epochen und diese in Alter untergliedert. Diese alle aufzuzählen würde aber zu weit führen. Aber als Beispiel: die Kreidezeit teilt sich in die Epochen Obere und Untere Kreidezeit, die beide in jeweils sechs Alter aufgeteilt werden.
Die Grenzen der Einheiten bzw. Intervalle des Phanerozoikums sind primär meist anhand des Erscheinens oder Verschwindens bestimmter Tierarten im Fossilbericht (ein sogenanntes Bioevent) definiert. Es handelt sich dabei stets um Überreste von Meeresorganismen, weil zum einen Meeressedimente, speziell Schelfsedimente, in der geologischen Überlieferung wesentlich häufiger sind als festländische Sedimente, und zum anderen, weil Schelfsedimente im Schnitt deutlich fossilreicher sind als festländische Sedimente.
Die Grundlagen der Bestimmung des Alters der Erde, sowie der Erdzeitalter finden sich in jedem zitierten Lehrbuch zur Evolutionsbiologie und zu den Fossilien. Hervorzuheben sind zusätzlich meine beiden Tutorials zum Alter der Erde und den Erdzeitaltern.
Tutorial Erdgeschichte 2: Altersdatierung: https://internet-evoluzzer.de/altersdatierung/
Tutorial Erdgeschichte 3: Erdzeitalter und Massenaussterben: https://internet-evoluzzer.de/erdzeitalter_massenaussterben/
Soweit erst einmal zu den entscheidenden Grundlagen. Führen wir unsere Evolutionsgeschichte in der nächsten Episode fort.