Der umstrittenste Dinosaurier aller Zeiten? Die Wahrheit über Nanotyrannus

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Einleitung

Kaum ein Thema hat die Dinosaurier-Community in den letzten Jahren so gespalten wie die Frage nach der Existenz von Nanotyrannus. Handelte es sich dabei um eine eigenständige Raubdinosaurier-Art, die zeitgleich und im selben Lebensraum wie Tyrannosaurus rex lebte? Oder sind alle vermeintlichen Nanotyrannus-Fossilien in Wahrheit einfach nur jugendliche Exemplare des T. rex?

Lange Zeit schien die Antwort klar: Nanotyrannus galt überwiegend als junger T. rex. Doch neue Untersuchungen brachten frischen Wind in die Debatte — insbesondere Studien an dem berühmten Fossil „Jane“ sowie an dem seit 2020 wissenschaftlich zugänglichen Skelett „Bloody Mary“, das in einem tödlichen Kampf mit einem Triceratops starb. Erste Ergebnisse dieser Analysen deuten darauf hin, dass diese Tiere möglicherweise keine halbwüchsigen Tyrannosaurier waren, sondern zu einer eigenen Art gehörten: Nanotyrannus.

Wer ist Nanotyrannus?

 

Über kaum einen Dinosaurier verfügen wir heute über so viele Erkenntnisse wie über Tyrannosaurus rex. Seine beeindruckenden Sinnesleistungen – vom scharfen Blick bis zum ausgeprägten Geruchssinn – und die daraus abgeleitete Lebensweise gelten inzwischen als vergleichsweise gut erforscht. Und doch gibt es einen Aspekt in seiner Biologie, der die Fachwelt seit Jahrzehnten beschäftigt: Wie verbrachte der „König der Tyrannenechsen“ seine Jugend? Wie wuchs ein frisch geschlüpfter T. rex, kaum einen Meter lang und nur wenige Kilogramm schwer, zu einem bis zu 13 Meter langen, neun Tonnen schweren Spitzenprädator heran?

Im Zentrum dieser jahrzehntelangen Kontroverse steht ein besonders berühmter Fund aus der Hell-Creek-Formation in Montana. 1942 entdeckte David Dunkle in Montana einen kleinen Schädel, der 1946 von Charles Gilmore einem Gorgosaurus zugeschrieben wurde. Doch schon damals wurde gemunkelt, ob es sich bei diesem Schädel nicht um einen jugendlichen Tyrannosaurus handeln könnte (Abb. 1).[1]

Abb. 1: Holotyp von Nanotyrannus

1988 untersuchten Robert T. Bakker, Philip Currie und Michael Williams den Schädel erneut. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Schädelknochen bereits vollständig miteinander verwachsen waren – ein Merkmal, das typischerweise auf ein ausgewachsenes Tier hinweist. Auf dieser Grundlage stellten sie eine neue Gattung auf, der sie aufgrund ihrer geringen Größe den Namen Nanotyrannus lancensis gaben.[2] Heute ist dieser Schädel im Cleveland Museum of Natural History zu sehen.

Eine erneute Untersuchung des Fossils durch den Paläontologen Thomas Carr im Jahr 1999 führte jedoch zu einem anderen Ergebnis: Carr identifizierte das Exemplar als juveniles Tier.[3] Diese Einschätzung überzeugte zahlreiche weitere Fachleute, sodass sich die Ansicht durchsetzte, es handle sich nicht um eine eigene Gattung, sondern um ein junges Individuum von Tyrannosaurus rex.

Ein weiteres Fossil befeuerte die Debatte zusätzlich: das Exemplar mit dem Spitznamen „Jane“ (BMRP 2002.4.1), das 2001 in Montana entdeckt wurde (Abb. 2). Ihr Schädel weist eine erstaunliche Ähnlichkeit zum Holotyp von Nanotyrannus auf, was die Diskussion neu entfachte. Allerdings war „Jane“ zum Zeitpunkt ihres Todes erst etwa 11 bis 14 Jahre alt und zeigt eindeutige Hinweise darauf, dass sie sich noch im Wachstum befand.[4] Damit rückte erneut die Frage in den Mittelpunkt, ob solche Funde tatsächlich zu Nanotyrannus gehören – oder lediglich jugendliche Stadien des Tyrannosaurus rex darstellen. „Jane“ ist heute im Burpee Museum of Natural History ausgestellt. Anlässlich einer dort abgehaltenen Fachkonferenz, die sich explizit mit der Frage nach der Gültigkeit von Nanotyrannus beschäftigte, sahen zahlreiche Paläontologen – darunter Philip Currie – in dem Fund eine Bestätigung dafür, dass es sich bei Nanotyrannus wahrscheinlich um einen jugendlichen Tyrannosaurus rex handelt.[5] Peter Larson hingegen hielt weiterhin an der Interpretation fest, dass Nanotyrannus eine eigenständige Gattung repräsentiere.[6]

Abb. 2: „Jane“

Ende 2011 berichteten Medien erstmals über einen bereits 2006 gemachten Sensationsfund: In Montana war ein nahezu vollständiges Theropoden-Skelett direkt neben den Überresten eines Horndinosauriers entdeckt worden. Beide zusammen wurde der Spitzname „Dueling Dinosaurs“ gegeben (Abb. 3). Vor Ort untersuchten Robert Bakker und Peter Larson die Fossilien und identifizierten den Horndinosaurier als Triceratops, den Theropoden als Nanotyrannus.[7] Der Fund erhielt später den Spitznamen „Bloody Mary“. Doch eine endgültige wissenschaftliche Einschätzung blieb lange Zeit unmöglich, denn das Fossil befand sich bis 2020 in Privatbesitz. Erst nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Montana ging das Eigentum an die Landbesitzer Mary Anne und Lige Murray über. Sie erklärten sich bereit, die Fossilien an ein Museum in den USA zu verkaufen.[8] Im selben Jahr erwarb das „North Carolina Museum of Natural Sciences“ den spektakulären Fund und errichtete eigens einen Forschungskomplex, in dem „Bloody Mary“ und der zugehörige Triceratops präpariert, wissenschaftlich untersucht und der Öffentlichkeit präsentiert werden können.[9]

Diese Funde spalteten die Fachwelt der Theropodenforschung in zwei Lager. Die eine Seite hielt weiterhin daran fest, dass Nanotyrannus eine eigenständige Gattung darstellt; die andere sah in sämtlichen kleineren Schädeln und Skeletten lediglich junge – teils noch jugendliche, teils halbwüchsige – Exemplare von Tyrannosaurus rex.

Abb. 3: „Bloody Mary“

Die Debatte um Nanotyrannus

Ein zentrales Argument der Befürworter einer eigenen Gattung Nanotyrannus betrifft die Zahnzahl. Fossilien, die Nanotyrannus zugeschrieben werden, weisen typischerweise 14 bis 15 Zähne pro Seite im Oberkiefer (Maxilla) und etwa 17 im Unterkiefer (Dentale) auf. Erwachsene Tyrannosaurus rex-Exemplare besitzen dagegen meist nur 11 bis 12 Zahnpositionen im Oberkiefer und 11 bis 14 im Unterkiefer. Manche Forscher sahen in dieser höheren Zahnanzahl ein anatomisches Merkmal, das für eine eigenständige Gattung spricht.

Die Interpretation dieses Merkmals bleibt jedoch umstritten. In einer einflussreichen Studie aus dem Jahr 1999 zeigte Thomas Carr, dass bei Gorgosaurus libratus die Zahnzahl mit zunehmendem Alter abnahm. Er nutzte diesen Befund, um zu argumentieren, dass Nanotyrannus wahrscheinlich lediglich ein junges Exemplar von T. rex darstellt.[10]

Eine andere Studie kam hingegen zu einem differenzierteren Ergebnis: Bei ihrer Analyse des verwandten Tarbosaurus bataar fanden sie nur geringe oder gar keine Abnahme der Zahnzahl während des Wachstums – selbst bei sehr jungen Tieren. Gleichzeitig stellten sie fest, dass sowohl Tyrannosaurus als auch Gorgosaurus erhebliche individuelle Variation in der Zahnanzahl zeigen, selbst innerhalb derselben Altersgruppe.[11] Die Zahnzahl kann also nicht eindeutig als Alters- oder Artmerkmal interpretiert werden, was die Debatte weiter offenhält.

Peter Larson argumentierte zudem, dass sich Nanotyrannus nicht nur durch bestimmte Schädelmerkmale, sondern auch durch proportional größere Hände – einschließlich gut ausgebildeter Phalangen am dritten Mittelhandknochen – sowie durch Unterschiede in der Morphologie des Gabelbeins von Tyrannosaurus unterscheiden lasse.[12]

Eine im Jahr 2016 veröffentlichte Analyse der Gliedmaßenproportionen deutete darauf hin, dass die Nanotyrannus-Exemplare unterschiedliche Grade an Laufvermögen aufwiesen – ein Merkmal, das als mögliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Nanotyrannus lancensis und Tyrannosaurus rex angeführt wurde.[13] Der Paläontologe Manabu Sakamoto wies jedoch darauf hin, dass diese Schlussfolgerung durch die geringe Stichprobengröße verzerrt sein könnte und die beobachteten Unterschiede daher nicht zwingend eine eigenständige Art rechtfertigen.[14]

Weitere Untersuchungen lieferten zusätzliche Argumente gegen die Gültigkeit von Nanotyrannus. Eine Studie aus dem Jahr 2020 stellte fest, dass die vermeintlichen Nanotyrannus-Fossilien eindeutig ontogenetisch nicht ausgewachsen waren und höchstwahrscheinlich juvenile Individuen von T. rex repräsentieren.[15] Bereits 2015 hatten andere Forscher argumentiert, dass sämtliche Merkmale, die zur Abgrenzung von Nanotyrannus herangezogen wurden, entweder individuelle oder altersbedingte Variation darstellen – oder auf taphonomischen Verzerrungen der Fossilien beruhen. Das betrifft auch die Öffnung eines Schädelknochens, dem Quadratojugale, die zur Untermauerung der Gültigkeit von Nanotyrannus angeführt wird. Diese Öffnung findet sich aber auch bei Gorgosaurus und anderen Funden der Tyrannosaurus-Verwandtschaft, was darauf hindeutet, dass es sich auch bei Tyrannosaurus rex finden könnte.[16]

In den vergangenen Jahren setzte sich also die Annahme durch, dass Nanotyrannus kein valides Taxon ist und alle Funde tatsächlich Jungtiere von T. rex repräsentieren. Damit schien sich die Hypothese zu bestätigen, dass Nanotyrannus gar nicht existierte. Das änderte sich ab 2024.

Nanotyrannus existiert!

 

Im Jahr 2024 unterzogen Nicholas Longrich und Evan T. Saitta den Holotyp und weitere Referenzexemplare von Nanotyrannus einer erneuten Analyse. Auf Grundlage verschiedener Merkmale – darunter Unterschiede in Morphologie, Wachstumsverlauf und phylogenetischer Position – kamen sie zu dem Schluss, dass Nanotyrannus ein gültiges, eigenständiges Taxon darstellt, das nach einigen ihrer phylogenetischen Rekonstruktionen möglicherweise nicht einmal innerhalb der Tyrannosauridae einzuordnen ist (Abb. 4).[17] Zur Einordnung:

Tyrannosaurus rex gehört in die Familie der Tyrannosauridae, die sich in zwei Unterfamilien teilt: Die Albertosaurinae, bestehend aus Albertosaurus und Gorgosaurus, sowie in die Tyrannosaurinae. Zu den Tyrannosaurinae gehören u. a. Alioramus, Daspletosaurus, Tarbosaurus und Tyrannosaurus, neben vielen anderen. Die Familie der Tyrannosauridae selbst gehört mit anderen nah verwandten Familien und Gattungen wie Drypotsaurus, Eotyrannus, Proceratosaurus, Yutyrannus, Guanlong und vielen anderen zur Superfamilie Tyrannosauroidea.[18] Nach Longrich und Saitta wäre demnach Nanotyrannus nicht nur eine eigenständige Gattung, sondern würde noch nicht mal zur Familie der Tyrannosauridae gehören, stünde aber immer noch innerhalb der Superfamilie der Tyrannosauroidea.

Abb. 4: taxonomische Einordnung der Tyrannosauroidea

Eine andere Studie widersprach dieser Einschätzung.[19] Man argumentierte, dass die basale Einordnung von Nanotyrannus bei Longrich & Saitta durch unreife Merkmalszustände und problematische Datensätze verzerrt sein könnte – und stützten damit die etabliertere Interpretation, nach der Nanotyrannus lediglich ein juveniler T. rex ist. Kurz darauf sprach sich Gregory S. Paul für eine basale Eutyrannosaurier-Position von Nanotyrannus aus (also außerhalb der eigentlichen Tyrannosauridae) und betonte erneut die Gültigkeit und Unterscheidbarkeit der Gattung. Diese Argumentation fügt sich in seine sogenannte „Multiple Small Taxa Hypothesis“ (MSTH) ein, nach der die Hell-Creek-Formation eine größere Vielfalt kleiner Theropoden beherbergte, als bislang angenommen.[20]

Im Oktober 2025 wurde die Gültigkeit von Nanotyrannus in einer umfangreichen wissenschaftlichen Abhandlung von Lindsay Zanno und James Napoli erneut untermauert.[21] Darin analysierten sie das Exemplar „Bloody Mary“ (NCSM 40000) detailliert. Anders als bisherige Funde ist „Bloody Mary“ gut erhalten und nahezu vollständig: Es umfasst neben dem Schädel erstmals auch die Knochen der Gliedmaßen und des Schwanzes. Dies gab den Paläontologen die Gelegenheit, Skelett und Knochen detailliert zu analysieren und mit denen des T. rex zu vergleichen.

Anhand von zyklischen Wachstumsmarken, die mindestens 14 Jahre Wachstum anzeigen, kamen sie zu dem Ergebnis, dass das Tier beim Tod ausgewachsen war und ein Alter von etwa 17 bis 22 Jahren erreichte. Die Autoren argumentierten außerdem, dass viele Merkmale, die häufig als ontogenetisch variabel angesehen werden – etwa Schwankungen in der Zahnanzahl – vielmehr individuelle Unterschiede darstellen könnten. Das Fossil zeigt auch klare anatomische Unterschiede zum T. rex. So besitzt dieser Dinosaurier 35 Schwanzwirbel, der Tyrannosaurus hat dagegen 40 bis 45. Die Zahl der Wirbel ist aber artspezifisch und wird schon in der Embryonalentwicklung festgelegt. Daher sei es kaum möglich, dass es sich hier um ein Tyrannosaurus-Jungtier handele.

Unterschiede gibt es auch in der Länge der Hand- und Fußknochen. Sie sind bei Nanotyrannus länger als bei Tyrannosaurus rex. Bei Nanotyrannus sind einige Arm-, Handwurzel- und Handknochen absolut größer als bei Tyrannosaurus. Fälle echter Größenreduktion ausgewachsener Gliedmaßen sind bei Amnioten unbekannt (Amnioten umfassen alle Landwirbeltiere, die durch die Fähigkeit gekennzeichnet sind, sich völlig unabhängig vom Wasser fortzupflanzen. Hierzu zählen alle Säugetiere, Vögel und „Reptilien“, sowie die direkten Vorfahren dieser Linien); dokumentiert sind lediglich verhältnismäßige Größenänderungen durch unterschiedliches Wachstumstempo im Verhältnis zum Gesamtkörper.

Zwar können einzelne Körperteile während des Wachstums unterschiedlich schnell wachsen, sodass sie im Verhältnis zum restlichen Körper bei älteren Individuen deutlich kleiner erscheinen. Ein alltägliches Beispiel dafür ist der menschliche Kopf: Bei Säuglingen und Kleinkindern ist er im Verhältnis zum Körper bereits groß, während der übrige Körper im Laufe des Wachstums stärker zunimmt und dadurch die Proportionen verändert.[22]

Entwicklungsbiologisch ist es jedoch nicht möglich, dass ein bereits vollständig ausgebildeter Knochen später, nach Abschluss der Wachstumsphase, wieder drastisch schrumpft. Einmal gebildetes Knochengewebe kann zwar umstrukturiert oder remodelliert werden, doch eine erhebliche Reduktion der Knochenlänge oder -masse im Sinne einer „Rückentwicklung“ findet bei Amnioten nicht statt. Ein erwachsenes Tier kann daher keine Gliedmaßen besitzen, die absolut kleiner sind als die eines juvenilen Stadiums derselben Art. Insgesamt, basierend auf den Daten von „Bloody Mary“ wog Nanotyrannus lancensis etwa 700 Kilo und damit weniger als ein Zehntel von T. rex.

Die neue Studie spricht sich außerdem für die Existenz einer zweiten Nanotyrannus-Art aus, da sich „Jane“ und „Bloody Mary“ in mehreren wesentlichen Merkmalen unterscheiden. Während der Holotyp und „Bloody Mary“ zur Art Nanotyrannus lancensis, wird „Jane“ der neu beschriebenen Art Nanotyrannus lethaeus zugeordnet. Obwohl „Bloody Mary“ zum Zeitpunkt ihres Todes deutlich älter war, war sie gleichzeitig erheblich kleiner als „Jane“. „Jane“ hatte ein Lebendgewicht von etwa 1.200 Kilo. Wäre „Jane“ tatsächlich ein jugendlicher T. rex, müsste ihr Wachstumsmuster außergewöhnlich untypisch verlaufen sein: ein sehr langsames Wachstum während der Jugend, gefolgt von einer abrupten Plateauphase und anschließend erneutem, langanhaltendem Größenwachstum. Ein solcher Wachstumsverlauf ist jedoch bei keinem bekannten Archosaurier dokumentiert und steht zudem im Widerspruch zum Wachstumsmuster von „Bloody Mary“. Aus diesem Grund halten Zanno und Napoli beide Individuen für Vertreter zweier unterschiedlicher Nanotyrannus-Arten, anstatt für Wachstumsstadien von Tyrannosaurus rex.

Die beiden Nanotyrannus-Arten werden einer eigenen Familie zugeordnet, die klar außerhalb der Tyrannosauridae steht. Demnach gehören Nanotyrannus nicht zur Linie des T. rex, sondern bilden gemeinsam mit Dryptosaurus und dem älteren Appalachiosaurus eine eigene Gruppe, die sie als Nanotyrannidae bezeichneten. Allerdings hatte Othniel C. Marsh die Familie Dryptosauridae bereits im Jahr 1890 errichtet. Da dieser Name nach den nomenklatorischen Regeln Vorrang hat, dürfte die neu vorgeschlagene Bezeichnung Nanotyrannidae nicht Bestand haben. Folglich wäre Dryptosauridae der korrekte und gültige Familienname für diese Klade.[23]

Nanotyrannus wäre damit Vertreter einer eigenständigen Linie innerhalb der Tyrannosauroidea, die sich vermutlich nach einer langen geografischen Isolation unabhängig von den Tyrannosauriden entwickelte. Als wahrscheinlich gilt ein Ursprung in Appalachia, dem östlichen Teil Nordamerikas, der während der Kreidezeit über Millionen von Jahren von Laramidia – dem westlichen Teil Nordamerikas und Lebensraum von Tyrannosaurus rex – durch ein ausgedehntes Binnenmeer getrennt war (Abb. 5). Aus der späten Oberkreide Appalachias ist bereits Dryptosaurus bekannt, von dem mehrere Fossilien an der heutigen Ostküste der USA gefunden wurden – also weit entfernt von den westlichen Lebensräumen des T. rex. Über die Dinosaurierwelt Appalachias ist bislang kaum etwas bekannt, da dort kaum späte kreidezeitliche Gesteine erhalten sind. Die Fauna dieses isolierten Kontinentalteils bleibt daher eines der großen Rätsel der Paläontologie. Dass Nanotyrannus nun möglicherweise Einblick in diese verborgene Ökologie erlaubt, macht die Debatte wissenschaftlich so bedeutsam.[24]

Abb. 5: Laramidia und Appalachia

Neuinterpretation der ökologischen Nische von Tyrannosaurus rex

Eine Neuzuordnung von Nanotyrannus als eigenständige Gattung bedeutet, dass viele bisher den Jungtieren des Tyrannosaurus rex zugeschriebene Merkmale in Wirklichkeit zum Nanotyrannus gehören. Das betrifft nicht nur die Anatomie, sondern auch ihre Lebensweise. Denn bisher vermutete man, dass T. rex und seine Jungtiere nahezu alle ökologischen Nischen für größere Fleischfresser besetzten.

In den letzten Jahren war eine sehr populäre Vorstellung dominant: die Idee, dass am Ende der Kreidezeit in Nordamerika eine ökologische Lücke existierte – nämlich das Fehlen mittelgroßer Raubtiere. Lange galt die Hypothese, dass es in dieser Zeit nur zwei Größenklassen gab: sehr kleine räuberische Dinosaurier, etwa hunde- bis wolfs­groß – und dann direkt die erwachsenen T. rex. Die fehlende „Mittelklasse“ erklärte man damit, dass junge Tyrannosaurier diese Rolle einnahmen.[25]

Aus dieser Theorie entstand ein faszinierendes Bild: Junge T. rex hätten während ihres Wachstums verschiedene ökologische Nischen durchlaufen und damit die Entwicklung und Besetzung mittelgroßer Raubtierrollen verhindert. Demnach hätte die Dinosaurierwelt fundamental anders funktioniert als heutige Ökosysteme – mit Heranwachsenden, die nicht nur Körpergröße änderten, sondern aktiv ganze Räubernischen blockierten. Wäre diese Idee korrekt, hätte sie weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis der Kreidezeitökologie und der Evolution der Dinosaurier gehabt. Doch gerade hier setzt die neue Arbeit an und zeigt: Vielleicht existierten diese mittelgroßen Räuber doch – und Nanotyrannus könnte der Schlüssel sein, der dieses Bild neu ordnet.

Fazit

Die Arbeit von Zanno und Napoli hat dazu geführt, dass einige zuvor skeptische Paläontologen Nanotyrannus nun als gültiges Taxon anerkennen. Forschende, die in der Vergangenheit selbst Zweifel an der Gültigkeit von Nanotyrannus geäußert hatten – darunter Thomas Carr, Steve Brusatte und David Hone – kamen zu dem Schluss, dass das Exemplar „Bloody Mary“ tatsächlich eine andere Art als Tyrannosaurus rex repräsentiert. Gleichzeitig mahnten andere Fachleute wie Holly Woodward Ballard weiterhin zur Vorsicht und betonten, dass die neuen Ergebnisse sorgfältig geprüft werden sollten, bevor endgültige taxonomische Schlüsse gezogen werden.[26]

Was mit Sicherheit folgen wird ist eine Revision aller als jugendlicher Tyrannosaurus beschriebenen Exemplare. Steven Brusatte und Thomas Carr mahnen hier zur Vorsicht, jeden jugendlichen T. rex, z. B. „Jordan“ (LACM 28471), oder „Rocky“ aus dem Dinosauriermuseum Altmühltal, nun als Nanotyrannus zu klassifizieren.[27] Diese Funde vorschnell Nanotyrannus zuzuordnen, wäre verfrüht; hier sind weitere Untersuchungen nötig, bevor sichere taxonomische Aussagen getroffen werden können. Eine ähnliche Einschätzung äußert Paläontologe Thomas Holtz. Auf die Studie angesprochen verwies er auf laufende Analysen zu mehreren Exemplaren. So gilt etwa der „Teen Rex“ aus dem Denver Museum derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als Nanotyrannus, und auch für das „U-Chicago-Exemplar“ deutet vieles darauf hin, dass es eher ein junger T. rex als ein Vertreter von Nanotyrannus ist.[28]

Trotz der neuen Ergebnisse bleibt auch die Zuordnung von „Jane“ zu Nanotyrannus lethaeus mit Vorsicht zu betrachten. Zwar gibt es Merkmale, die für eine eigene Gattung sprechen, doch ein entscheidender Punkt sticht hervor: „Jane“ war deutlich größer und massiger als „Bloody Mary“, gleichzeitig aber mit 11 bis 14 Jahren erheblich jünger und offenbar noch im Wachstum. Das wirft die Frage auf, ob „Jane“ nicht doch ein heranwachsener T. rex – oder womöglich sogar Vertreter einer bislang unbekannten Art – gewesen sein könnte.[29]

Am Ende wird klar: Nanotyrannus ist kein Fall für schnelle Urteile, sondern ein Beispiel dafür, wie sorgfältig Wissenschaft arbeitet. Und vielleicht ist die spannendste Erkenntnis nicht einmal die mögliche Existenz einer neuen Art – sondern der Hinweis, dass Nanotyrannus aus Appalachia nach Laramidia eingewandert sein könnte. Das wäre ein erster Beleg für eine invasive Dinosaurierart und für zeitweilige Landverbindungen zwischen den beiden nordamerikanischen Teilkontinenten am Ende der Kreidezeit. Neue Daten, neue Methoden – und vielleicht bald neue Fossilien. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt und sie wird immer spannender.

[1] Gilmore, CW (1946): A new carnivorous dinosaur from the Lance Formation of Montana. Smithsonian Miscellaneous Collections 106(13).

[2] Bakker, RT, Williams, M, Currie, PJ (1988): Nanotyrannus, a new genus of pygmy tyrannosaur, from the latest Cretaceous of Montana. Hunteria 1(5):1–30. https://doc.rero.ch/record/14603/files/PAL_E2288.pdf

[3] Carr, TD (1999). Craniofacial ontogeny in Tyrannosauridae (Dinosauria, Coelurosauria). Journal of Vertebrate Paleontology. 19(3):497–520. https://doi.org/10.1080/02724634.1999.10011161

[4] Hutchinson JR, Bates KT, Molnar J, Allen V, Makovicky PJ. (2011). A computational analysis of limb and body dimensions in Tyrannosaurus rex with implications for locomotion, ontogeny, and growth. PLoS One. 6(10):e26037. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3192160/

[6] Larson, P (2005): A case for Nanotyrannus. In: The origin, systematics, and paleobiology of Tyrannosauridae. A Symposium hosted jointly by Burpee Museum of Natural History and Northern Illinois University. https://www.geokniga.org/bookfiles/geokniga-tyrannosaurid-paleobiology.pdf

[7] https://www.smithsonianmag.com/science-nature/montanas-dueling-dinosaurs-134669023/

[8] https://www.science.org/content/article/court-rules-dueling-dinos-belong-landowners-win-science

[9] https://naturalsciences.org/calendar/news/north-carolina-museum-of-natural-sciences-to-receive-the-dueling-dinosaurs/

[10] Carr, TD (1999). Craniofacial ontogeny in Tyrannosauridae (Dinosauria, Coelurosauria). Journal of Vertebrate Paleontology. 19(3):497–520. https://doi.org/10.1080/02724634.1999.10011161

[11] Tsuihiji, T et al. (2011). Cranial osteology of a juvenile specimen of Tarbosaurus bataar from the Nemegt Formation (Upper Cretaceous) of Bugin Tsav, Mongolia. Journal of Vertebrate Paleontology. 31(3):497–517. https://doi.org/10.1080/02724634.2011.557116

[12] Larson, P (2013). The validity of Nanotyrannus lancensis (Theropoda, Lancian – Upper Maastrichtian of North America. Society of Vertebrate Paleontology 73rd Annual Meeting, S. 159. https://vertpaleo.org/wp-content/uploads/2021/03/SVP-2013-merged-book-10-15-2013.pdf

[13] Persons, WS, Currie, PJ (2016). An approach to scoring cursorial limb proportions in carnivorous dinosaurs and an attempt to account for allometry. Scientific Reports. 6 19828. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4728391/

[14] Sakamoto, M (2016). Hind limb proportions do not support the validity of Nanotyrannus. https://mambobob-raptorsnest.blogspot.com/2016/03/hind-limb-proportions-cast-doubt-on.html

[15] Woodward, HN et al. (2020). Growing up Tyrannosaurus rex: Osteohistology refutes the pygmy “Nanotyrannus” and supports ontogenetic niche partitioning in juvenile Tyrannosaurus. Science Advances. 6(1):eaax6250. https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aax6250

[16] Yun, C (2015). Evidence points out that “Nanotyrannus” is a juvenile Tyrannosaurus rex. PeerJ PrePrints 3:e1052. https://doi.org/10.7287/peerj.preprints.852v1

[17] Longrich, NR., Saitta, ET. (2024). Taxonomic Status of Nanotyrannus lancensis (Dinosauria: Tyrannosauroidea)—A Distinct Taxon of Small-Bodied Tyrannosaur. Fossil Studies 2(1):1–65. https://doi.org/10.3390/fossils2010001

[18] Brusatte, S, Carr, T (2016). The phylogeny and evolutionary history of tyrannosauroid dinosaurs. Sci Rep 6:20252. https://doi.org/10.1038/srep20252

[19] Voris, JT et al. (2025). A new Mongolian tyrannosauroid and the evolution of Eutyrannosauria. Nature. 642(8069):973–979. https://www.nature.com/articles/s41586-025-08964-6

[20] Paul, GS (2025). A presentation of the current data on the exceptionally diverse non-tyrannosaurid eutyrannosaur and Tyrannosaurini genera and species of western North America during the end Cretaceous North American interchange. Mesozoic. 2 (2): 85–138. https://www.biotaxa.org/mesozoic/issue/view/mesozoic.2.2/6996

[21] Zanno, LE., Napoli, JG. (2025). Nanotyrannus and Tyrannosaurus coexisted at the close of the Cretaceous. Nature. https://doi.org/10.1038/s41586-025-09801-6

[22] Vgl. Kretschmer, M (2025): Nanotyrannus – Doch kein „Teen-Rex“`? https://netzwerk-kryptozoologie.de/nanotyrannus/

[23] Kretschmer, M (2025): Nanotyrannus – Doch kein „Teen-Rex“`? https://netzwerk-kryptozoologie.de/nanotyrannus/

[24] Kretschmer, M (2025): Nanotyrannus – Doch kein „Teen-Rex“`? https://netzwerk-kryptozoologie.de/nanotyrannus/

[25] Schroeder, K et al. (2021). The influence of juvenile dinosaurs on community structure and diversity. Science 371: 941-944 https://www.science.org/doi/10.1126/science.abd9220

[26] Siehe z. B.: NY Times (30. Oktober 2025): https://www.nytimes.com/2025/10/30/science/nanotyrannus-tyrannosaurus-rex-fossil.html, National Geographic (30. Oktober 2025): https://www.nationalgeographic.com/science/article/nanotyrannus-t-rex-dueling-dinosaur-fossil-debate   Scientific American (30. Oktober 2025): https://www.scientificamerican.com/article/nanotyrannus-isnt-a-juvenile-t-rex-its-a-separate-dinosaur/

[27] Scientific American (30. Oktober 2025): https://www.scientificamerican.com/article/nanotyrannus-isnt-a-juvenile-t-rex-its-a-separate-dinosaur/

[28] Kretschmer, M (2025): Nanotyrannus – Doch kein „Teen-Rex“`? https://netzwerk-kryptozoologie.de/nanotyrannus/

[29] Kretschmer, M (2025): Nanotyrannus – Doch kein „Teen-Rex“`? https://netzwerk-kryptozoologie.de/nanotyrannus/