Säugetiere haben die unterschiedlichsten Lebensräume erobert und zeigen sich durch eine Vielfalt ihrer Gliedmaßen, vor allem ihrer Arme, aus (vgl. Abb. 1). Die verschiedenen Lebensräume konnte Säugetiere u. a. durch ihre spezialisierten Gliedmaßen erobern: Fledermäuse fliegen, Wale schwimmen, Gibbons schwingen von Baum zu Baum, Pferde galoppieren und Menschen können mit ihren Händen über ihr Smartphone wischen. Tatsächlich hat keine andere Wirbeltiergruppe eine solch erstaunliche Vielfalt an Armen hervorgebracht. Im Vergleich dazu haben alle Vögel Flügel und fast alle Reptilien laufen auf vier Gliedmaßen.
Abb. 1: Vordergliedmaßen bei Wirbeltieren. Man beachte die Formenvielfalt bei Säugetieren im Vergleich zu den Vögeln
Und gerade unsere Vordergliedmaßen sind etwas, was Säugetiere so besonders macht – natürlich neben ihren sieben Halswirbeln, ihren Milchdrüsen und ihrer Intelligenz. In einer neuen Studie, erschienen in der Proceedings of the National Academy of Sciences, entdeckten Wissenschaftler dass die Vorfahren der Säugetiere schon vor 270 Mio. Jahre – 30 Mio. Jahre bevor die Dinosaurier auftauchten – diverse Vordergliedmaßen entwickelten.
Um die Ursprünge der Vordergliedmaßen der Säugetiere zu ergründen, hatten Jacqueline Lungmus und ihr Co-Autor Ken Angielczyk die Fossilien der frühen Säugetiervorfahren untersucht. Vor ungefähr 312 Mio. Jahren spalteten sich die Amnioten (zu denen gehören heute die Säugetiere, Vögel und “Reptilien”) in zwei Gruppen: die Sauropsiden, welche zu den Dinosauriern, Vögeln, Krokodilen und Echsen führten und die Synapsiden, zu denen u. a. die Säugetiere gehören. Ein entscheidender Unterschied zwischen beiden Gruppen liegt in der Schädelanatomie, nämlich in der Zahl der Schläfenfenster. Hierbei handelt es sich um Öffnungen im Schädelbereich, an denen die Kiefermuskeln ansetzen. Die Knochenbögen, die unterhalb der Schläfenöffnung verlaufen bezeichnet man als Schläfenbögen. Bei Sauropsiden liegt ursprünglich ein diapsider Schädel vor – es gibt zwei Schläfenfenster. Synapsiden haben nur ein Schläfenfenster (vgl. Abb. 2). Im Verlauf der Evolutionsgeschichte kam es zu vermehrten Umwandlungen der Schläfenfenster. So haben Schildkröten ihre Schläfenfenster sekundär komplett verschlossen (anapsider Schädelbau) und bei den Säugern ist das Schädelfenster sekundär geschlossen und seine vormalige Präsenz nur anhand des nach wie vor vorhandenen unteren Schläfenbogens, nunmehr als Jochbogen (Arcus zygomaticus) bezeichnet, erkennbar; der Schläfenmuskel Musculus temporalis verläuft vom oberen Fortsatz des Unterkieferknochens zum Schädeldach und passiert dabei zwischen Jochbogen und Außenwand der Hirnkapsel.
Abb. 2: Schläfenfenster bei Landwirbeltieren. A. Anapsider Schädel (Schildkröten, Amphibien), B: Synapsider Schädel (Säugetiere), C: Diapsider Schädel (Reptilien, Vögel).
Die ursprünglichen Vertreter der Synapsiden, die Pelycosaurier (Abb. 3), zu denen auch z. B. das Dimetrodon gehört, sind zwar mit den Säugetieren nah verwandt, doch ihre Erscheinung erinnert mehr an Dinosaurier oder andere Reptilien. Vor etwa 270 Mio. Jahren tauchte jedoch eine neue Gruppe auf, die Therapsiden (Abb. 3), direkte Nachfahren der Pelycosaurier. Auch die echten Säugetiere (Mammalia) sind Teil dieser Gruppe. Zu den Therapsiden gehören z. B. die Gorgonopsiden, fleischfressende Vertreter die im oberen Perm vor 270 bis 251 Mio. Jahren lebten. Aus einer anderen Gruppe, den Cynodontia (deutsch: Hundezähner) entwickelten sich die echten Säugetiere. Therapsiden sind eine unheimlich vielfältige Gruppe. Es gibt über 400 Gattungen und über 1000 Arten nicht-mammaler Therapsiden, also jene die keine echten Säugetiere (Kloakentiere, Beuteltiere, Plazentatiere) sind. Als Vergleich: die Wissenschaft kennt bisher “nur” 700 Dinosaurier-Arten (Vögel nicht mitgezählt). In Anbetracht der Tatsache, dass wir eigentlich Therapsiden sind, wird jeder Laie viel schneller 10 Dinosaurier-Arten aufzählen können als 10 nicht-mammale Therapsiden-Arten.
Abb. 3: Stammbaum der Synapsiden.
Dabei stehen die Therapsiden in ihren vielfältigen Erscheinungsformen den Dinosauriern in nichts nach. Die Zahl der morphologischen Formen ist übrigens so vielfältig, dass eine Grenze zwischen “echten Säugetieren” nicht nicht-mammalen Therapsiden nur schwer gezogen werden kann. Sie sind eines der besten evolutionär dokumentierten Wirbeltiergruppen und ein Alptraum für jeden Kreationisten, der die Existenz von Übergangsformen leugnet (aber Kreationisten sind ohnehin nur Kretins). Das bisher älteste bekannte “echte Säugetier” ist Megazostrodon und lebte vor 195 Mio. Jahren im Süden Afrikas. Ihren Höhepunkt der Vielfalt hatten die Therapsiden im Perm (vor 300 – 250 Mio. Jahren). Die meisten Vertreter starben nach dem großen Massensterben im Perm vor 250 Mio. Jahren aus und überließen den Vorfahren der Dinosaurier die Vorherrschaft. Nur wenige Vertreter überlebten dieses Massensterben, eine Linie führte zu den Säugetieren. Die enorme Artenvielfalt der Therapsiden hatte somit auch eine morphologische Vielfalt: es gab Fleischfresser, Pflanzenfresser, Baumbewohner und grabende Arten.
Jacqueline Lungmus und ihr Co-Autor Ken Angielczyk untersuchten, ob die Vielfalt der frühen Therapsiden-Formen mit der Vielfalt der Vordergliedmaßen korrespondiert. Das Team untersuchte die Oberarmknochen von hunderten Fossilien, die 73 verschiedene Pelycosaurier und Therapsiden repräsentierten (Abb. 4). Sie unternahmen Messungen wie der Oberarmknochen mit der Schulter und den Ellbogen verbunden ist und analysierten die Form der Knochen mit einer Technik, die als geometrische Morphometrie bezeichnet wird. Bei dieser Methode wird eine Vielzahl von Messpunkten (sogenannten landmarks) am zu untersuchenden Objekt platziert, um die Gestalt des Objekts in seiner Gesamtheit zu erfassen. Dabei sind sowohl zweidimensionale Analysen (z. B. auf der Basis von digitalen Fotos) als auch dreidimensionale Untersuchungen (z. B. auf der Basis von CT-Daten) möglich. Anschließend lässt sich die über landmarks erfasste Gestalt von einzelnen Gruppen über statistische Verfahren vergleichen oder getrennt untersuchen.
Abb. 4: Fotos der Oberarmknochen von sieben verschiedenen Säugetier-Vorfahren. Die drei Knochen auf der linken Seite stammen von Pelycosauriern und haben annähernd die gleiche Form. Die vier Knochen auf der rechten Seite stammen von Therapsiden und zeigen eine größere Variation. Die schwarzen Streifen repräsentieren 2 cm. (c) Jacqueline Lungmus, Field Museum
Dabei fanden die Forscher heraus, dass die Therapsiden eine wesentlich größere Variation in der Form der Knochen aufweisen als die Pelycosaurier. Besonders der obere Abschnitt des Armes, also jener Teil, der mit dem Schultergürtel verbunden ist, ist besonders variabel. Das ermöglichte den Therapsiden sich mit größeren Freiheitsgraden zu bewegen als den Pelycosauriern, deren massige und eng anliegenden Schulterknochen die Bewegungsfreiheit einschränkten. Diese Studie konnte somit nachweisen, dass die Vordergliedmaßen der Vorfahren der Säugetiere wesentlich variabler waren als gedacht. Vor dieser Entdeckung ging man davon aus, dass die Vielfalt der Vordergliedmaßen sich bei den Säugetieren erst vor 160 Mio. Jahren entwickelten.
In Anbetracht der Tatsache, dass unsere Evolution durch den Aufrechten Gang und das Freiwerden der Hände ermöglicht wurde und uns zu dem machte, was wir heute sind, ist es erstaunlich zu wissen, dass dieses Prinzip – die Vielfalt der Vordergliedmaßen – schon seit 270 Mio. Jahren in uns schlummert. Wir sollten das Beste daraus machen!
Die Studie kann hier gelesen werden.