Richard Lewontin

Am 4. Juli 2021 starb der Genetiker, Evolutionsbiologe und Marxist Richard Lewontin (Spitzname „Dick“). Er gehört, wohl neben Steven Jay Gould, zu den für mich einflussreichsten Evolutionsbiologen, die mich in meinem naturwissenschaftlichen Denken geprägt haben.

Lewontin war u. a. an der Weiterentwicklung vieler Bereichen der Evolutionstheorie beteiligt.

• Zusammen mit J. L. Hubby benutzte er molekularbiologische Techniken, wie beispielsweise die Gelelektrophorese, um Problemstellungen der genetischen Variation und Evolution zu klären. In zwei Aufsätzen im Jahr 1966 legte er somit die Grundlagen für die molekulare Evolution.

• Lewontin und Gould legten im Jahr 1979 ihre Schrift „The spandrels of San Marco and the Panglossion paradigm: a critique of the adaptationist programme“ vor. Diese Schrift war eine Kritik des Adaptionismus im traditionellen neo-darwinistischen Denken. Der Titel der Schrift spielt auf das aus der Architektur stammende Wort „spandrel“ („Spandrille“, der Zwickel zwischen den Bögen eines Gewölbes) an. Obwohl man meinen könnte, diese wären etwa als Bildträger für Mosaiken erfunden worden, ergeben sie sich einfach zwangsläufig aus der Konstruktionsweise. Genauso existierten viele Merkmale von Organismen nicht als Ergebnis einer besonderen, darauf gerichteten Adaptation, sondern hätten sich ebenso einfach als Beiprodukt anderer Prozesse ergeben. Tatsächlich erweisen sich viele Merkmale nicht als Anpassungsmerkmal, sondern entstehen durch genetische Drift (also zufallsbedingte Änderungen des Genpools einer Population) und Pleiotropie (Ein Gen codiert für mehrere phänotypische Merkmale. Wird nach einem Merkmal hin selektiert, werden andere Merkmale „mitgezogen“. Ein Beispiel hierfür ist die Selektion nach der Hautfarbe als Anpassung an die UV-Strahlung beim Menschen. Da viele Gene, die an der Hautpigmentierung beteiligt sind z. B. auch für die Augen- und Haarfarbe codieren unterliegen Augen- und Haarfarbe keiner – zumindest starken – Selektion, deren Variation sind also pleiotrope Effekte). „Developmental Constraints“ (Entwicklungszwänge) sind ebenfalls ein immer wichtiger werdender Bereich. Das sind genetische oder epigenetische Mechanismen, die verhindern, dass während der Entwicklung (Ontogenese) unerwünschte Abweichungen vom Bauplan entstehen. Auf Evolution bezogen (Evo-Devo) zeichnen Constraints deren Verlauf in bestimmten durch Physik, Morphologie oder Phylogenese vorgegebenen Schranken vor. Constraints sind Hürden, die durch den Bauplan, etwa Skelett oder Lungen vorgegeben sind. Sie können adaptiv nicht beliebig verändert werden. So können Wale evolutionär nicht mehr ohne weiteres Kiemen entwickeln. Constraints begrenzen die phänotypische Evolution und wirken gleichzeitig richtungsbestimmend für deren Verlauf. Wahrscheinlich sind auch die meisten kognitiven Fähigkeiten des Menschen nicht als eine Anpassung auf unser Leben in der Steinzeit anzusehen.

• In Organism and Environment in Scientia und in populärerer Form im letzten Kapitel von Biology as Ideology sagte Lewontin, dass man im Gegensatz zur traditionellen darwinistischen Darstellung des Organismus als passiven Empfänger von Umwelteinflüssen den Organismus als aktiven Schöpfer der Umwelt ansehen sollte. Nischen sind keine vorgeformten, leeren Behälter, in die die Organismen eingefügt werden, sondern werden von den Organismen definiert und geschaffen. Die Beziehung zwischen Organismus und Umgebung ist wechselseitig und dialektisch. Die daraus sich entwickelnde Theorie der Nischenkonstruktion konnte eine Reihe solcher Beispiele liefern. Ein beliebtes Beispiel sind Biber. Durch den Bau von Dämmen verändern sie aktiv ihre Umwelt und schaffen sich die für ihre Art notwendigen Umweltbedingungen. Engels Theorie der Arbeit als Menschwerdung des Affen kann ebenso als unsere spezifische Nischenkonstruktion angesehen werden.

• Auch beschäftigte ihn die Frage, wo die natürliche Selektion ansetzt: Am Gen, am Protein, an dem Merkmal selbst oder gar am ganzen Organismus. Zu diesem theoretischen Problem der „Level of Selection“-Debatte leistete Lewontin wichtige Beiträge.

• Lewontin gehört zu den ersten, der nachweisen konnte, dass die genetischen Unterschiede innerhalb einer Population des Menschen größer sind, als zwischen den Populationen. Damit legte er den ersten molekularbiologischen Grundstein für die Widerlegung des Rassenkonzeptes. Kritiker werfen ihm jedoch vor politisch zu argumentieren. In meinem Buch „Eva kam aus Afrika … und Adam auch“ beleuchte ich dieses näher.

• Lewontin war auch ein entschiedener und überzeugend argumentierenden Gegner der evolutionären Psychologie (wie sie u. a. von Steven Pinker, David Buss und Richard Dawkins populärwissenschaftlich verbreitet wird) und des genetischen Determinismus. Sehr einflussreich wurde etwa ein wohl maßgeblich von Lewontin verfasster Brief des Kollektivs „Science for the People“ im New York Review of Books, der eine Debatte in der US-amerikanischen Öffentlichkeit über die Soziobiologie auslöste, die über 10 Jahre lang andauerte; diese wurde (etwas pathetisch) als die „sociobiology wars“ berühmt. Lewontins Hauptvorwürfe an die Soziobiologie waren eine verfehlte Methodik, insbesondere ein übertriebener Reduktionismus und weitgespanntes Theoretisieren abseits einer empirischen, auf Fakten gegründeten Basis. In seinen Büchern wie „Not in Our Genes“ (zusammen mit Steven Rose und Leon J. Kamin) und zahlreichen Artikeln stellte er die Vererbung von menschlichen Verhaltensweisen und in IQ-Tests gemessener Intelligenz in Frage, wie sie zum Beispiel in The Bell Curve von Charles Murray beschrieben wird. Dieser Problematik widme ich mich sehr ausführlich im sechsten Kapitel meines Buches.

• In „The Dialectical Biologist“ unterstreicht Lewontin die Bedeutung der Philosophie, insbesondere der Dialektik, in den Naturwissenschaften, ohne in einen Dogmatismus zu verfallen. Neben den schon erwähnten Bereichen (Kritik am Adaptionismus, Nischenkonstruktion und die Kritik an der Soziobiologie), sowie die Kritik der reduktionistischen Herangehensweise in der Molekularbiologie, gibt es ein recht gutes Kapitel zum Phänomen des Lysenkoismus in der Sowjetunion. Während gleichzeitig die wesentlichen Aussagen des Lysenkoismus als falsch eingestuft werden (wohl aber nicht alle), fehlt der platte und primitive Antikommunismus, wie man es aus Medwedews Buch zur Lysenko-Affäre kennt (z. B. widerlegt Lewontin die Behauptung, dass durch Lysenkos Methoden die Landwirtschaft zusammengebrochen war). Gleichzeitig wird betont, dass die frühe Mendel-Genetik in ihren Erklärungen zu einfach war und auch nicht frei von politischem Einfluss.

Aber nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch war Richard Lewontin einzigartig. So berichtet Jerry Coyne, Evolutionsbiologe und Autor des Buches „Why Evolution is true“, der bei Lewontin seine Promotion machte:

„Dick führte sein Labor als egalitäre Kommune. Sein Büro war nicht schicker als unseres, (…) Dick selbst war äußerst klug, ein großartiger Schriftsteller und unglaublich eloquent, was uns allen zwar ein Vorbild gab, aber einige von uns entmutigte, da sie erkannten, dass wir nie annähernd an sein Leistungsniveau und seine Intelligenz herankommen würden. (…) Abgesehen von der Unabhängigkeit, die er uns ermöglichte, stand Dick immer für Gespräche oder moralische oder finanzielle Unterstützung zur Verfügung. Seine Bürotür stand immer offen, und wenn man ein teures Gerät brauchte, brauchte man nur zu fragen. Er hielt das Labor auch mit starkem Kaffee über Wasser, was mit Zuschüssen aus dem Abteilungsdepot käuflich zu erwerben war. Ich erinnere mich, dass das NIH einmal die Finanzen des Labors überprüfte und der Prüfer, als er das riesige Budget für Dosenkaffee sah, Dick fragte: ‚Wofür ist dieser ganze Kaffee?‘ Dick antwortete: ‚Zum Trinken.‘ (…)

Am wichtigsten ist vielleicht, dass Dick einen starken Sinn für Ethik hatte, den er uns allen einflößte. (…) Er weigerte sich, seinen Namen auf Paper aus seinem Labor zu schreiben, in denen er keine wesentliche Rolle spielte. Ich erinnere mich, als ich meine erste Arbeit über Gelelektrophorese schrieb, tippte ich einen Entwurf und setzte „Jerry A. Coyne und Richard C. Lewontin“ in die Autorenzeile. Ich legte es zur Überprüfung auf seinen Schreibtisch. Am nächsten Tag wurde mir der Entwurf zurückgegeben, neben anderen Kommentaren war sein Name als Autor durchgestrichen. Er sagte mir: ‘Mach das nie wieder.’