Der Haken mit dem Orang-Utan-Haken

Um es vorwegzunehmen: Die Leistungen unserer nächsten Verwandten verblüffen uns und damit auch mich. Dem Gorilla-Weibchen “Koko” wurde die Zeichensprache beigebracht und mithilfe dieses “Wortschatzes” konnte sie auch “Wörter” beschreiben, die ihr nicht mit der Zeichensprache beigebracht wurden (so konnte sie aus den Handzeichen für “Feuer” und “Flasche” ein Feuerzeug “beschreiben”). Auch dem Bonobo-Männchen “Kanzi” konnte man verschiedene Symbole beibringen, ihm wurde sogar beigebracht mit Feuer umzugehen und sich Marshmallows zu machen (ob das die beste Nahrung für einen Bonobo ist, sei dahingestellt).

Eine Studie der Universität Wien, der Universität St. Andrews und der Veterinärmedizinischen Universität Wien um Isabelle Laumer und Alice Auersperg mit Orang-Utans hat nun weiteres zutage gebracht. Offensichtlich scheinen Orang-Utans in der Lage zu sein, Werkzeuge “herzustellen”.

 

Young Orangutans hugging in Nyaru Menteng Orangutan reintroduction project near Palangka Raya, Central Kalimantan.
Nyaru Menteng Orang-Utan Auswilderungsprojekt bei Palangka Raya in Kalimantan auf Borneo. Auffangstation der Organisation BOSF (Borneo Orangutan Survival Foundation). Junge Orang-Utans (Pongo pygmaeus) umarmen sich.

“Wir konfrontierten die Orang-Utans mit einem geraden Stück Draht und einer senkrechten durchsichtigen Röhre, die ein Körbchen mit Henkel, befüllt mit ihrem Lieblingsfutter, enthielt. In einer zweiten Aufgabe erhielten die Tiere ein um 90 Grad gebogenes Stück Draht und eine horizontale Röhre, die in der Mitte eine Belohnung enthielt”, erklärt Isabelle Laumer, die die Studie im Zoo Leipzig durchführte. Um an den Inhalt des Körbchens zu gelangen, mussten die Tiere auf die Idee kommen die Spitze des Drahts zu einem Haken zu verbiegen, diesen in den Henkel einzuhängen und das Körbchen hochzuziehen. In der zweiten Aufgabe befand sich die Belohnung in der Mitte eines horizontalen Röhrchens. Um zu dem Futter zu gelangen, mussten die Tiere ein um 90 Grad gebogenes Drahtstück gerade biegen. Nur dadurch konnten sie das Futter aus dem Röhrchen herausstoßen. Quelle

Die Affen schafften diese Aufgabe, zwei Orang-Utans konnten sogar beide Aufgaben innerhalb von 10 Minuten lösen. Menschenkinder hingegen scheinen ein großes Problem mit ähnlichen Aufgaben zu haben.

Die Aufgabe, auf die Idee zu kommen aus einem Stück Draht einen Haken zu biegen, um ein Körbchen mit Henkel aus einer senkrechten Röhre herauszuholen, gelingt Kindern unter acht Jahren aber nur selten. Wie britische ForscherInnen herausfanden, gelang es der Mehrheit der Kinder erst im Alter von acht Jahren, selbstständig ein Hakenwerkzeug zu erfinden. Nach einer Demonstration waren aber Kinder aller Altersklassen in der Lage selbst einen Haken zu biegen. Obwohl es ein offensichtliches Verständnis davon gibt, welche Art von Werkzeug benötigt wird und auch die Fähigkeit gegeben ist, ein funktionales Werkzeug herzustellen, scheint es ein kognitives Hindernis bei der Erfindung dieses zu geben.Quelle

Warum also ist die Erfindung eines Hakenwerkzeugs für jüngere Kinder so schwierig? “Folgestudien zeigten, dass die Probleme der Kinder die Aufgabe zu lösen, nicht darauf zurückzuführen sind, dass sie zu impulsiv wären, auf nichtmodifizierte Werkzeuge fixiert sind oder nicht in der Lage wären eine bereits verfolgte Strategie zu ändern. Die Aufgabe stellt ein komplexes Problem dar, zu dessen Lösung mehrere unbelohnte Teilschritte nötig sind, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren.”, erklärt Isabelle Laumer. “Komplexe Problemstellungen werden in bestimmten Arealen des medialen präfrontalen Kortex verarbeitet. Interessanterweise reift dieses Hirnareal bei Kindern erst später vollständig aus. Das könnte den Erfolg der älteren Kinder erklären.”Quelle

Die Publikation ist online verfügbar unter: www.nature.com/articles/s41598-018-34607-0

Wenn wir uns die Intelligenz der Menschenaffen ansehen, scheinen wir in Anbetracht der Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft an unserer eigenen Intelligenz zu zweifeln. Vor allem wenn solch eine “kinderleichte” Aufgabe (die Herstellung eines Haken) von Affen besser verrichtet werden kann, als von Kindern.

Heißt das nun, dass Affen zumindest schlauer sind als Menschenkinder und es daher keine besonderen kognitiven Unterschiede zwischen uns und den anderen Menschenaffen gibt? Mitnichten.

So erstaunlich diese Leistung wirken mag, gerade dies hebt die sonderbare Rolle des Menschen hervor:

  • Die Studie wurde an wenigen Affen durchgeführt, die in menschlicher Obhut leben. Damit Affen in Zoos ihre natürlichen Bedürfnisse ausleben können, gibt es das sogenannte Behavioural Enrichment (Verhaltensanreicherung). Da Zootiere oftmals nicht den Nöten der Natur ausgesetzt sind (das Suchen nach Nahrung) wird durch entsprechende Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Tiere eine Art Ersatzbeschäftigung haben. Beispielsweise kann Nahrung versteckt werden, Duftstoffe ausgelegt werden etc. Gerade bei Menschenaffen werden verschiedene solcher Verhaltensanreicherungen durchgeführt und bei den Primaten des Zoo Leipzig werden diesbezüglich sogar Verhaltensstudien durchgeführt. Das heißt aber automatisch: Die Orang-Utans im Zoo Leipzig können intelligenter sein als ihre wilden Verwandten, da sie schon mehrere solcher “kniffligen” Experimente erlebt haben. Es wäre daher interessant zu wissen, ob wilde, unerfahrene Orang-Utans genauso schnell auf eine Lösung gekommen werden
  • Dass Affen (nebst anderen Tieren wie z. B. Raben) Naturgegenstände nutzen um an Nahrung zu kommen ist bekannt. Von Schimpansen weiß man, dass sie – übrigens je nach geographischer Lage – Steine oder Holz nehmen, um Nüsse zu knacken. Das ist jedoch erst mal keine WerkzeugHERSTELLUNG. Man nutzt einen Gegenstand, lässt diesen liegen, nimmt ihn also weder mit, noch verarbeitet er diesen. Es gibt also den Unterschied der Herstellung und des Gebrauchs von Werkzeugen. Die Bedeutung der Werkzeugherstellung für die Evolution des Menschen ist bahnbrechend. Eine Studie von Dietrich Stout stellte sich die Frage, welche Bedeutung das Herstellen von Steinwerkzeugen für die Gehirn- und Sprachentwicklung des Menschen hatte. Um der Frage nachzugehen, hatten die Forscher selbst Faustkeile hergestellt und sich unter einen Hirnscanner gelegt. Es zeigt sich, dass die Herstellung des Faustkeils viel Arbeitseinsatz (über 300 Stunden pro Faustkeil!) und relativ hohe, längerfristige Lernanstrengungen erfordert, bei dem relativ viele Hirnareale beteiligt sind, inklusive jene der Sprachverarbeitung. Das heißt, dass die Herstellung eines Faustkeils an sich schon “komplexer” ist als einen Draht zu verbiegen und vor allem eine gesellschaftliche Tätigkeit ist (Lernen & Sprache); dazu später mehr. Nicht zu vergessen – abgesehen von der Vermutung, dass die Zoo-Orang-Utans durchaus Erfahrung mit “menschlichen Werkzeugen” haben, alleine z. B. durch Beobachtung von Handwerkern und anderem Zoopersonal – ist noch ein weiterer wichtiger Punkt: Der Draht als solcher ist schon ein Werkzeug, hergestellt von Menschen. Hat ein Orang-Utan aber die Kenntnis der Metallverarbeitung? Ist er sich der Metallverarbeitung bewusst? Deswegen sind sicherlich die frühen “Hakenwerkzeuge” des Menschen komplexer als das Verbiegen eines Drahtes durch Orang-Utans, weil der Mensch eben schon erlernt hatte Metalle für sich zu verarbeiten.
  • Wenn Affen und andere Tiere Werkzeuge benutzen, dann nur wenn sie ein unmittelbares Bedürfnis haben, z. B. Hunger. Wenn ein Affe Hunger hat und Nüsse sieht, greift er zum nächsten Stein oder Holz (völlig irrelevant wie gut oder schlecht er ist) und knackt die Nuss. Ist kein Stein oder kein Stück Holz in der Nähe (in der Natur wohl ein extrem unwahrscheinlicher Fall), wird er die Nuss nicht fressen und nach leichter zugänglicher Nahrung suchen. Er käme auch nicht auf die Idee meilenweit durch den Wald zu laufen, um nach einem passenden Stein zu suchen, um gerade diese Nuss zu knacken. Völlig anders bei uns Menschen, die auf die bekloppte Idee kommen kilometerweit zum Lieblings-Dönerladen zu fahren, obwohl der Kühlschrank voll ist oder in der Straße nebenan der Taccostand steht. Und gerade das macht die Sonderstellung des Menschen bzw. seiner Werkzeugherstellung aus. Er hat schon – überspitzt formuliert – beim Weihnachtsessen den Plan im Kopf, welche Werkzeuge und Baumaterialien er sich morgen beim Hornbach holen wird, um in den Sommerferien sein Sommerhäuschen fertigzustellen, obwohl das unmittelbare Bedürfnis ein Sommerhaus zu bauen beim Weihnachtsessen nicht vorhanden ist (das unmittelbare Bedürfnis wäre hier das Essen zu genießen und höchstwahrscheinlich der innige Wunsch mit seiner nervigen Verwandtschaft nicht die ewig gleichen unnötigen und anstrengenden Diskussionen führen zu müssen – auch etwas was uns vom Tier unterscheidet: unangenehmen Situationen gehen sie lieber aus dem Weg, statt sie zu ertragen; oder man frisst das Gegenüber auf).
  • Menschenaffen kann man sicherlich – in gewissen Grenzen – einige komplexe Dinge beibringen, wie Zeichensprache. Doch der entscheidende Punkt ist, dass dies der Affe nur unter Obhut des Menschen erlernt. Bisher ist nicht bekannt, dass ein Schimpanse, Bonobo oder Gorilla irgendwo im afrikanischen Urwald auf die Idee kam, Werkzeuge herzustellen (statt nur zu benutzen), schon gar die Zeichensprache zu lernen oder mit dem Feuer umzugehen.
  • Weiterhin fehlt dem Affen die Abstraktion des Begriffes Werkzeug (oder Nuss), der bei Menschen mittels der Sprache vermittelt wird (Menschenaffen sind übrigens weder genetisch, noch anatomisch in der Lage zu sprechen). Und genau das bestimmt den qualitativen Unterschied zwischen dem “Arbeitstier” Mensch und dem nicht arbeitenden Affen, weil erster nicht nur seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt, die ihn gerade jetzt Triggern, sondern schon in die Zukunft plant und dies über die Sprache mitteilt. Genau das belegt ja der Versuch mit dem Orang-Utans im Vergleich zu den Kindern. Kindern fällt die Aufgabe einen Haken herzustellen offensichtlich schwerer als einem erwachsenen Orang-Utan. Und das nicht, weil Kinder “dümmer” sind als die Affen (ja, auch das nervige schreiende Nachbarsgör), sondern weil die Gehirnentwicklung bei Menschen wesentlich komplexer verläuft. Kinder haben eben sehr viel Zeit Dinge zu lernen, wodurch sie im Erwachsenenalter mehr können (ob sie genug lernen und ob sie dann die Möglichkeit haben das zu tun, was sie können, sind gesellschaftliche Fragen). Dabei ist eine Aussage der Orang-Utan-Forscher besonders hervorzuheben: “Nach einer Demonstration waren aber Kinder aller Altersklassen in der Lage selbst einen Haken zu biegen. Obwohl es ein offensichtliches Verständnis davon gibt, welche Art von Werkzeug benötigt wird und auch die Fähigkeit gegeben ist, ein funktionales Werkzeug herzustellen, scheint es ein kognitives Hindernis bei der Erfindung dieses zu geben.” Das was als “kognitives Hindernis” dargestellt wird, ist jedoch tatsächlich keins: Es zeigt sich, dass wenn Kinder von Erwachsenen beigebracht bekommen, wie man einen Haken herstellt, diese es auch erlernen. Das zeigt damit, dass die Herstellung der Werkzeuge bei Menschen vor allem gesellschaftlich ist. Es folgt keinem unmittelbares Bedürfnis (man kriegt eine Leckerei), sondern einem gesellschaftlichen. Leider wird nicht erwähnt, ob die Kinder eine Belohnung bekommen hätten, das ein unmittelbares Bedürfnis stillt. Da jedoch die Forscherin erwähnt, dass die Aufgabe “ein komplexes Problem [darstelle], zu dessen Lösung mehrere unbelohnte Teilschritte nötig sind, ohne dabei das Ziel aus den Augen zu verlieren“, war dies offensichtlich nicht der Fall.
  • Werkzeugherstellung ist somit nicht nur ein komplexer, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess, der, vermittelt durch die Sprache, wesentlich effizienter zu verlaufen scheint, wenn man miteinander kooperiert. Dabei ist die Kooperation bei Menschen nicht nur komplexer, sondern auch uneigennütziger (bei dem also nicht jeder Teilnehmer sofort profitiert) als z. B. bei Schimpansen.

Die Ergebnisse der Studie an den Leipziger Orang-Utans soll hiermit keinesfalls herabgewürdigt oder kritisiert werden. Es ist ein erstaunliches Ergebnis und zeigt, wie nah uns unsere nächsten Verwandten wirklich sind. Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen (was soweit mir bekannt, die Forscherinnen auch NICHT tun!), hier zu vermenschlichen und gleich zu sagen Mensch=Orang-Utan oder Menschenkinder = dümmer als Orang-Utans. Ich bin mir aber sicher, dass einige “Aktivisten” oder genau dies tun werden. Daher der Einwand.